Das Ausmaß der Ölpest: Übertrieben oder unterschätzt?
Obama nennt sie die schlimmste Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA. Doch Wissenschaftler sind sich über das tatsächliche Ausmaß der Ölpest im Golf von Mexiko uneins. Mancher hält die Krisenstimmung der letzen Monate für übertrieben.
09.08.2010
Von Marco Mierke

Es war eine Nachricht, die nicht nur die Bewohner an der US-Golfküste mehr als drei Monate lang herbeigesehnt hatten: Das Ölleck ist gestopft, mit Zement versiegelt, richtig dicht. Doch als BP die frohe Botschaft vom gelungenen "Static Kill" am vergangenen Donnerstag in einer knappen E-Mail verkündete, blieben die Sensationsmeldungen in den US-Medien aus. Stattdessen Zurückhaltung: "Das ist vielleicht der Anfang vom Ende der Ölpest", hieß es bei den meisten Fernsehsendern in den Hauptnachrichten. Die Betonung lag auf "vielleicht".

"Wurde das Ausmaß der Ölpest übertrieben?"

In Amerika herrscht Unsicherheit: Ist das Desaster jetzt vorbei? Und wie groß ist der Schaden für die Umwelt und die Wirtschaft tatsächlich? 106 Tage lang war die Ölpest auf allen Kanälen ununterbrochen das Hauptthema - und ein Bericht darüber düsterer als der andere. Selbst US-Präsident Barack Obama sprach von der schlimmsten Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA. Wer kann eine solche Krise nun guten Gewissens für beendet erklären?

Deshalb werden werden kurz nach dem "Static Kill", dem ersten richtigen Todesstoß für die Ölquelle, nur langsam Fragen laut, ob nicht vieles, was im Golf passierte, schlicht überzogen dargestellt wurde. Selbst Anderson Cooper vom Nachrichtensender CNN, der von allen Reportern besonders eindringlich und kritisch über das Unglück berichtete, zweifelt: "Wurde das Ausmaß der Ölpest übertrieben - von Politikern, Wissenschaftlern und den Medien, einschließlich mir?"

Wissenschaftler: Keine katastrophalen Effekte

Wie lange nicht mehr finden wieder Experten mit optimistischen Analysen Gehör: "Es gibt überhaupt keine Daten, die zeigen, dass es sich um eine Umweltkatastrophe handelt. Ich habe kein Interesse, BP gut aussehen zu lassen, aber wir sehen keine katastrophalen Effekte", sagt der Meereswissenschaftler Ivor van Heerden dem Magazin "Time". Der große Hype um das Thema beruhe auf Annahmen und Meinungen - nicht auf Beweisen.

Auch die Obama-Regierung beginnt, einen positiven Ton anzuschlagen. In einem Bericht erklärte sie jetzt, drei Viertel der rund 660 000 ausgeströmten Tonnen Öl seien schon verschwunden - entweder von den Einsatzkräften entfernt, oder auf natürliche Weise abgebaut. Weit und breit sei kein Ölteppich mehr zu sehen. Umweltschützer und Fachleute reiben sich erstaunt die Augen. Sie liefern fundierte wissenschaftliche Erklärungen, warum diese Angaben nicht stimmen können. Gegenbeweise jedoch haben sie auch nicht.

Aussage gegen Aussage

Bis konkrete wissenschaftliche Untersuchungen über den Untergang der Bohrinsel "Deepwater Horizon" und seine Folgen fertig sind, wird Aussage gegen Aussage stehen. Die Natur werde noch lange mit der Ölverschmutzung zu kämpfen haben, sagt Kristina Johnson vom "Sierra Club", der ältesten Umweltschutzorganisation in den USA. Das habe das Unglück des Tankers "Exxon Valdez" gezeigt, bei dem 1989 deutlich weniger Öl ins Meer lief. "Das ist über 20 Jahre her und die Gemeinden und das Ökosystem in Alaska leiden immer noch darunter."

Dieser Vergleich hinkt, erwidern Experten. Während aus der "Valdez" schweres, dickes Öl geströmt sei, habe die BP-Quelle nur eine sehr leichte Variante ausgespuckt. Eine, die für die Umwelt wesentlich ungefährlicher sei. Außerdem war das Wasser vor der Küste Alaskas richtig kalt, im Golf von Mexiko ist es sehr warm - auch das spreche dafür, dass das Öl diesmal viel schneller von Bakterien zersetzt werden könne. Außerdem: Mutter Natur komme erstaunlich gut mit dem Problem klar, sagt van Heerden. An einigen verölten Stellen im betroffenen Sumpfgebiet wachse schon wieder Gras.

Für Ökobilanz zu früh

Die größte Frage ist, woran sich das Ausmaß eines solchen Unglücks messen lässt. "Ohne Maßstab kann man gar nichts darüber sagen", sagt Nancy Knowlton, Meeresbiologin bei der Smithsonian-Stiftung. Die Zahl der tot gefundenen Vögel liege im Golf verglichen mit dem "Valdez"-Unglück bei weniger als einem Prozent, rechnete die "Time" aus. Die verölten Delfine ließen sich an einer Hand abzählen. Und in Louisiana seien gerade mal 350 Hektar Marschland verseucht, während der Bundesstaat pro Jahr 15.000 Hektar durch Erosion verliere.

Ohne die genauen Auswirkungen für das Ökosystem zu kennen, sei es für eine Bilanz einfach zu früh, konstatiert die Chefin der US-Umweltbehörde, Lisa Jackson. "Es ist noch nicht die Zeit, den Geschichtsbucheintrag über die Ölpest im Golf von Mexiko zu schreiben."

dpa