"Man muss auch in seiner Muttersprache mit Gott sprechen können." Wenn Moshe Navon die Besonderheiten des liberalen Judentums erläutert, ist seiner Stimme ein wenig die verträumte russische Seele anzuhören, und es knackt am Telefon auch leicht hebräisch. Doch das Deutsch des Rabbiners ist bemerkenswert gut – seit drei Jahren erst lebt er mit seiner Frau Miriam und den Söhnen Tovia, Eyal, Daniel und Eliahu in der Bundesrepublik. In Bochum hat die Familie eine neue Heimat gefunden. Das älteste Kind ist 15, das jüngste neun, alle vier gehen hier zur Schule.
Doch die Ausländerbehörde der Ruhrstadt hat etwas dagegen. Navon verdient momentan kein Geld, die Familie lebte seit August 2009 von Arbeitslosengeld und muss nun mit Hartz IV auskommen. Ist das Leben unter diesen Umständen schon für deutsche Staatsbürger schwer zu meistern, legen Behörden bei Nicht-EU-Ausländern noch ganz andere Maßstäbe an. Moshe und die Seinen sind Israelis. Und so nimmt eine Geschichte ihren Lauf, die unglaublich klingt und ein wenig beschämend ist. Die Navons sollen ausreisen, erhalten eine Frist bis Mitte August. Ihre Pässe werden eingezogen.
Die Zukunft bleibt ungewiss
Die Frist ist zwar vorerst vom Tisch. Aber die Zukunft der Rabbinerfamilie bleibt ungewiss. Moshe Navon wurde 1954 in Russland geboren, nach dem Fall des Kommunismus ging er wie viele Sowjetjuden nach Israel. Ihre Zahl wird heute auf 900.000 geschätzt. 1994 heiratete er Miriam, die vier Söhne wurden allesamt in Jerusalem geboren. Der Vater, der schon in Moskau wissenschaftlich tätig war, unterrichtete unter anderem an der Hebräischen Universität in Jerusalem, in seiner Doktorarbeit befasste er sich mit messianischen Figuren im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, also in den fünf Jahrhunderten vor Christus.
Parallel dazu machte Moshe Navon eine Ausbildung zum jüdischen Geistlichen – und entschloss sich 2007, nach Deutschland zu gehen. Das Land, in dessen Namen der Massenmord an den europäischen Juden verübt wurde, war für ihn vor allem auch das Land der liberalen jüdischen Renaissance, für die Namen wie Leo Baeck stehen. Ein Jahr lang war der gebürtige Russe Rabbiner der Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen. Doch in der orthodox geprägten Gemeinde fühlt er sich fremd, die Ansichten über das richtige Verständnis des Judentums gehen auseinander. Nach einem Jahr folgt die Trennung.
Schmerzliche Ablösung von Orthodoxen
Der liberale Rabbiner wechselt ins 50 Kilometer entfernte Unna: Dort hatte sich im Jahr 2007 die Gemeinde "haKochaw" (Der Stern) gebildet, in einem schmerzlichen Ablösungsprozess von der orthodox geprägten Dortmunder Gemeinde. Nun wird Moshe Navon ihr leitender Geistlicher, und es trifft sich gut, dass er aus Russland kommt, denn die meisten Gläubigen hier zählen zu den sogenannten Kontingentflüchtlingen aus der Ex-Sowjetunion. "Er ist der einzige russischsprachige liberale Rabbiner in Deutschland", erzählt Gemeindevorsitzende Alexandra Khariakova stolz.
Erst im Mai wurde im Stadtteil Unna-Massen eine neue Synagoge eingeweiht – im ehemaligen Bodelschwingh-Haus der evangelischen Kirche. Rabbiner Navon ist darüber hinaus auch für die Gemeinden in Pyrmont und Oberhausen zuständig. Alle gehören zur Union progressiver Juden, in der inzwischen bundesweit 22 liberal geprägte Gemeinden zusammengeschlossen sind. Die Union ist auch Mitglied im Zentralrat der Juden. "Wir sind Judentum plus", sagt Moshe stolz und ein wenig verschmitzt.
Frauen nehmen aktiv teil
Die Unterschiede zwischen orthodoxen und liberalen Juden sind mit den zwischen Katholiken und Protestanten vergleichbar. Die liberalen Gemeinden kennen Rabbinerinnen, zudem nehmen die Frauen aktiv am Synagogengottesdienst teil und nicht nur als Zuschauerinnen von der Empore. In Sachen Musik und Gebet gibt es auch unter den Liberalen zwei Richtungen: Im Gegensatz zu den Konservativen ist bei den Reformern Orgel- oder Gitarrenklang in der Synagoge nicht verpönt, und für das Gebet wird neben dem altehrwürdigen Hebräisch auch die Muttersprache verwendet. In Unna etwa betet die Gemeinde auch auf Deutsch und Russisch.
Moshe Navon verwahrt sich jedoch dagegen, Feind der Tradition zu sein. "Im Gegenteil, wir bewahren das", sagt er und nennt einen weiteren Aspekte des liberalen Judentums: "Wir behandeln Christen nicht wie Heiden. Wir sehen sie als Schwestern und Brüder im Glauben", sagt der Rabbiner, der einst sein Studium mit einer Arbeit über die Begegnung von Johannes dem Täufer und Jesus nach dem Lukasevangelium abschloss. "Unsere Synagoge ist geöffnet für das gemeinsame Gebet mit Christen." Dieses Gebet, betont er, "muss unseren gemeinsamen Glauben an Gott und an die Menschlichkeit ausdrücken".
Ersten Artikel auf Deutsch veröffentlicht
Seiner wissenschaftlichen Neigung geht Navon weiterhin nach, steht im Kontakt mit den evangelischen und katholischen Kollegen an der Universität Bochum, unter ihnen der bekannte Theologe Thomas Söding. Ein gemeinsames Buchprojekt ist geplant. Kürzlich hat der Rabbiner seinen ersten Beitrag in deutscher Sprache veröffentlicht, im "Freiburger Rundbrief", einer Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung. Sein Thema: "Jesu Teilnahme am jüdischen Gottesdienst. Ein jüdischer Kommentar zu Lk 22,14-20".
Doch mit Forschung lässt sich abseits von Universitäten und vergleichbaren Einrichtungen nicht viel Geld verdienen. Und die Unnaer Gemeinde kann Moshe Navon nicht finanzieren - weil sie ihrerseits vom Land Nordrhein-Westfalen kein Geld bekommt, im Gegensatz zu den orthodoxen Einheitsgemeinden. Es gibt bisher in den wenigsten Bundesländern öffentliche Zuschüsse für das liberale Judentum - obgleich das Bundesverwaltungsgericht dies anmahnte und NRW Besserung gelobte. Einstweilen bleibt es dabei, dass sich "haKochaw" keine hauptberuflichen Geistlichen leisten kann.
Die Frage der öffentlichen Relevanz
So sieht nun die Stadt Bochum die Sicherung des Lebensunterhaltes der Familie Navon für nicht gewährleistet, wie es im besten Amtsdeutsch heißt - und erkennt zudem die öffentliche Relevanz jener Tätigkeit nicht an, der das Familienoberhaupt nachgeht. "Die Stadt hat erklärt, es gebe kein gesellschaftliches Interesse an meiner Arbeit", sagt der Rabbiner. Seine Stimme klingt ruhig, nicht verbittert - denn er weiß, dass viele Menschen hinter ihm stehen. Allen voran die Anwältin Annette Kärger-Steinhoff, die Klage beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen eingereicht hat. Ein rund 40-köpfiger Unterstützerkreis hat sich zudem gebildet, viele Universitätsdozenten, Studierende, Pfarrer und Lehrer sind darin vertreten.
"Wir wollen nicht vom Staat abhängig sein", betont Moshe Navon und verweist auf bevorstehende Arbeitsmöglichkeiten. So soll er im nächsten Wintersemester an der Evangelischen Fakultät in Bochum einen Lehrauftrag erhalten - und könnte dort Kollege der früheren Bischöfin Margot Käßmann werden. Auch die Fachhochschule Düsseldorf und das Jüdische Institut der dortigen Heinrich-Heine-Universität haben Angebote unterbreitet.
Erst einmal aufatmen
Vor wenigen Tagen dann konnte Familie Navon wieder aufatmen: Nachdem die Ausreisefrist zwischenzeitlich um zehn Tage bis zum 25. August verlängert wurde, hat die Stadt Bochum am vergangenen Dienstag verfügt, dass Moshe, Miriam und die vier Söhne für die Dauer des Eilverfahrens geduldet werden. Miriam hat inzwischen mit Unterstützung der Caritas eine Arbeitsmöglichkeit gefunden, als Tagesmutter. "Auch sie wird jetzt für unser Einkommen arbeiten", berichtet ihr Mann stolz.
Mit seiner religiös und politisch liberalen Prägung spürt Moshe Navon, dass er nach Deutschland gehört. "Das Reformjudentum sieht hier seine geistliche Heimat, nicht nur in Israel." Ziel ist es nach seinen Worten, dessen Wurzeln in der deutschen Gesellschaft restaurieren. "Das jüdische Element gehört zum modernen Deutschland dazu." In der NS-Zeit habe das Land, das seit dem 19. Jahrhundert so sehr durch das bürgerlich-aufgeschlossene Judentum geprägt worden sei, "geistigen Selbstmord" begangen. Der Geistliche spürt aber auch die Herausforderungen durch die Moderne. "Viele meiner christlichen Ansprechpartner verstehen mich. Wenn ich mit säkularen Menschen spreche, ist es sehr schwer zu erklären, was ich tue."
"Ich muss zum Gottesdienst!"
Jetzt will sich Rabbiner Navon in Ruhe auf die Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen vorbereiten. Ein juristischer Präzedenzfall steht an: Denn die Richter müssen nicht nur über die Frage des Lebensunterhalts entscheiden, sondern auch, welche gesellschaftspolitische Bedeutung die Tätigkeit von Rabbiner Navon hat. Kommt sie in dieser Frage zu einem positiven Ergebnis, könnte der Geistliche mit seiner Familie in Detuschland bleiben. So weit ist es aber noch nicht. Es ist Freitagmittag, Rabbiner Navon klingt am Telefon noch aufgeweckter als zu Beginn des Gesprächs, doch jetzt hat er keine Zeit mehr. "Ich muss zum Gottesdienst!"
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Religion.