Trend: In Lesekreisen Literatur gemeinsam erleben
Abendsonne, Bier, nackte Füße im Gras: Mit einem Buch in der Hand genießt Birgit Andorf (33) den Feierabend. "Einem lauschigen Abend am Fluss sollte nichts im Wege stehen", hat die Werbetexterin einen Tag zuvor an die 15 Teilnehmer ihres Lesekreis-Verteilers gemailt. Nun sitzt sie mit fünf Münchnern auf den Isarwiesen und diskutiert über "Arnes Nachlaß", einen 1999 erschienen Roman von Siegfried Lenz.
05.08.2010
Von Hanna Spengler

Den privaten Münchner Lesekreis gibt es seit rund acht Jahren. Die Teilnehmer sind zwischen 33 und 50 Jahre alt; darunter ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU-München, ein Computeradministrator und eine Marktforscherin. "Wir treffen uns einmal im Monat, meistens bei einem daheim", sagt Andorf. Pro Sitzung werde ein Buch gelesen. "Maximal 400 Seiten, alles zwanglos, ohne Referate, wissenschaftlichen Anspruch oder Programm".

"Wir sind schließlich keine Seniorenuni", findet ein Teilnehmer. Welches Buch gelesen wird, stimmt die Gruppe in der Sitzung zuvor ab. "Basisdemokratisch, wenn man so will", sagt Bücherwurm Stephan Sack (47), der gemeinsam mit seiner Frau zum Lesekreis gestoßen ist, "um neue Leute in München kennenzulernen".

Man will echte Menschen

Neben literarischem Austausch sei den Teilnehmern "die soziale Komponente" des Lesekreises wichtig, sagt Andorf. "Wir gehen zusammen ins Kino, ins Theater, schauen uns Literaturverfilmungen auf DVD an." Online-Foren für Leseratten sind ihre Sache nicht. "Ich möchte in meiner Freizeit nicht mehr viel mit Internet zu tun haben", erklärt die Freiberuflerin. Teilnehmer Reinhardt Graupner (47) stimmt lachend zu: "Man will echte Menschen."

"Private Lesekreise sind eine extrem vielfältige und bunte Szene", weiß Christoph Schäfer von der Stiftung Lesen in Mainz. Zum einen gebe es ambitionierte Kreise, die "anspruchsvolle Texte der Weltliteratur erwandern". Andere Gruppen seien genussbetonter: "Einfach in einem schönem Ambiente den Roman einer gemeinsamen Lieblingsautorin lesen."

Ein Glas Wein

In Lindau am Bodensee wird traditionell bei einem Glas guten Wein geschmökert: "Wir treffen uns seit 24 Jahren", sagt die Leiterin des "Literaturkreises im Hospiz", Sabine Kaiser (63). Regelmäßig kommen etwa 15 bis 20 Teilnehmer. Jede Saison steht unter einem speziellen Motto. "Wir stellen zuvor ein Programm zusammen; zusätzlich werden vor jedem Treffen Einladungen verschickt."

In Lindau ist es üblich, dass pro Sitzung ein Teilnehmer ein Buch vorstellt. Dabei werden interessante Stellen nachgelesen, Ambitioniertere erstellen ein Handout, es wird diskutiert. Eckhard Strohschänk (65) ist, wie er sagt, "erst durch den Kreis in der Stadt heimisch" geworden. Zuletzt war der Titel "Verschwörung gegen Amerika" von Philip Roth an der Reihe. "Wir haben uns aber schon an dicke Schinken wie Tolstois ?Krieg und Frieden? gewagt", sagt Kaiser. Anregungen erhalte die Gruppe aus Zeitungen, Literatursendungen oder dem Internet.

Medialer Mainstream

"In der Literaturlandschaft bilden sich immer mehr Nischen als Gegenreaktion zum medialen Mainstream heraus", hat Christoph Schäfer von der Stiftung Lesen beobachtet. Gerade das gemeinsame Interesse für Spezialgebiete verstärke das Bedürfnis, sich in einer Gruppe auszutauschen. Trotz neuer Kommunikationsmöglichkeiten wie Online-Foren oder Web-Blogs sei das Interesse an privaten Kreisen weiterhin groß.

"Die Anonymität des Internets schafft den Gegentrend, dass Leser das Gespräch in einem Lesekreis suchen", sagt Thomas Mahr, seit 26 Jahren Inhaber einer Buchhandlung in Langenau. "Die Antworten, die ihnen Netz und Feuilleton bieten, reichten ihnen nicht. In Neu-Ulm stellt Mahr einmal jährlich in einem Caféhaus ausgewählte Titel vor; zudem ist er Mitglied in einem Lesekreis in Langenau. Nicht immer bleibe das Gespräch beim Inhalt des Buches: "Das Gespräch über Literatur wird dann zum Gespräch über Gott und die Welt."

Zusatzmaterial zu Büchern

Für die Verlagsgruppe Random House sind private Lesekreise längst eine wichtige Zielgruppe geworden. "Wir bauen diesen Bereich immer weiter aus", sagt Detlef Horn von Random House. Einige Verlage des Unternehmens böten bereits ausführliche Zusatzmaterialien zu Büchern und Onlineportale für Lesekreise an, mit Autorenporträts und Interviews.

"Das Klischee vom menschenscheuen, kauzigen Bücherwurm stimmt einfach nicht", sagt Schäfer von der Stiftung Lesen. Menschen, die gerne lesen, seien häufig sehr an Austausch interessiert. Angesichts von 90.000 Neuerscheinungen jährlich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt sähen zudem viele "den Wald vor lauter Bäumen nicht", ergänzt er. "Hier vermitteln Lesekreise Orientierung."

Internet: www.stiftunglesen.de


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