65 Jahre Hiroshima: Gedichte eines Überlebenden
Sankichi Toge wurde 1917 in Japan geboren. Mit 18 Jahren begann er, Gedichte zu schreiben. Zum Zeitpunkt des Abwurfs der Atombomben war er 24. Zwölf Jahre später starb er an Leukämie als Folge seiner radioaktiven Verstrahlung. Seine Erfahrungen aus erster Hand, sein leidenschaftlicher Einsatz für den Frieden und sein ungeschönter Blick auf das schreckliche Ereignis machten ihn zum bedeutendsten "Hiroshima-Dichter" Japans.

Sankichi Toge: 6. August

Wie könnte ich diesen Lichtblitz je vergessen!
Im Nu hörten dreißigtausend Menschen auf zu sein
Die Schreie von fünfzigtausend Getöteten

Im gelben Rauch, der sich vor die Sonne legte
Zerbarsten Gebäude, stürzten Brücken ein
Straßenbahnen voller Menschen brannten auf ihrem Weg
Durch Hiroshima, darin Aschehaufen ohne Zahl
Schon bald hing die Haut wie Lumpen herab
Die Hände auf der Brust
Ausrutschend auf verspritztem Gehirn
Mit Fetzen verbrannten Tuchs um die Lenden
Kamen endlose Reihen Nackter daher
Schreiend

Körper auf dem Exerzierplatz, verstreut wie Geröll
Gruppen, an den Ufern gestapelt
Auf Flöße gepackt, fertig zum Abtransport
Verwandelten sich in Kadaver
Unter der sengenden Sonne

In der Mitte der Flamme
Der sich gegen den Abendhimmel erhob
Nahe der Straße, wo Mutter und
Bruder von Trümmern lebendig begraben wurden
Loderte das Feuer mit aller Macht

Auf Lagern aus Unrat in Abstellräumen
Berge von Menschen, Gott allein wusste, wer sie waren …
Haufenweise Schulmädchen im Dreck
Aufgedunsen, einäugig
Die Hälfte ihrer Haut in Fetzen herabhängend, kahlköpfig

Die Sonne schien, nichts rührte sich
Außer den summenden Fliegen in den Metallwannen
Über denen der Gestank hing

Wie kann ich diese Stille vergessen
Die sich über die 300.000-Einwohner-Stadt legte?
Inmitten dieser Ruhe
Wie kann ich das Flehen vergessen
Der von uns gegangenen Ehefrau und des Kindes
Die aus ihren Augenhöhlen
In unseren Kopf und unsere Seele drangen?


In der Erste-Hilfe-Station

Ihr
Die ihr weint, ohne Tränenkanäle zu haben
Die ihr schreit ohne Lippen für die Worte
Die ihr euch festklammern wollt
Ohne Haut, wen zu berühren
Ihr
Mit zuckenden Gliedern, voll Blut und Eiter
Verquollenen weißen Augenschlitzen
Und verlumpter Unterwäsche
Als nunmehr einzige Kleidung
Doch ohne jede Scham
Oh, wie frisch und schön Ihr alle wart
Vor dem Blitz eines Augenblicks
Als ihr Schulmädchen wart, einen Blitz ist das erst her
Wer vermag das zu begreifen?

Heraus aus den trüben, zuckenen Flammen
Des brennenden, faulenden Hiroshimas
Tretet ihr, unkenntlich
Sogar für euch selbst
Ihr hüpft und kriecht, eine nach der anderen
Auf den Rasen draußen
Haarsträhnen auf bronzenen Glatzen
In den Staub des Todeskampfs

Warum musstet ihr das erleiden?
Warum diese grausamste Verletzung von allen?
Hatte es einen Sinn?
Warum?
Ihr wirktet ungeheuerlich, aber konntet nicht wissen
Wie weit weg ihr euch von der menschlichen Gemeinschaft befindet

Ihr denkt:
Womöglich an Mütter und Väter, Brüder und Schwestern
Würden wenigstens sie euch noch erkennen?
An Schlafen und Wachen, an Frühstück und Zuhause
Wo die Blüten der Hecke in einem Blitz verglühten
Und selbst ihre Asche verschwunden ist

Ihr überlegt und überlegt
Reglos unter Freunden
Die sich nicht mehr rührten, einer nach dem anderen
Erinnert euch, dass ihr jede von euch eine Tochter war
Eine Tochter der Menschlichkeit

Ihr Kleinen
Verstummt nicht, sondern sprecht
Im Kampf gegen die Erwachsenen der Welt
Die so gern Kriege anzetteln
Springt auf und ruft: "Hey!"
Mit lauter, klarer Stimme
Und glänzenden Augen
Und öffnet eure Arme
Berührt jeden, den ihr wollt
Bringt mit einer Umarmung
Tränen der Güte in die Herzen aller Menschen zurück
Dann hüpft hinaus in die Welt
Ruft: "Wir sind die Jungen und Mädchen
Die Kinder von Hiroshima!"

Übersetzung des englischen Originaltexts:
Thomas Östreicher


Sankichi Toge erlebte den Atombombenangriff drei Kilometer vom Epizentrum entfernt. Nach dieser Tragödie wurde er in Jugendgruppen der Friedensbewegung aktiv. Als US-Präsident Truman 1950, zu Beginn des Koreakriegs, mit dem erneuten Einsatz von Atomwaffen drohte, beschloss Toge, eine Anthologie zum Thema zu veröffentlichen - trotz strenger Zensur aller Druckwerke durch die Oberste Heeresleitung der Alliierten.

1951 wurde sein Gedicht "6. August" als ein Beitrag Japans bei den "Weltfestspielen der Jugend und Studenten" in Ostberlin vorgestellt und erlangte internationale Beachtung. Lungenkrank starb Sankichi Toge zwei Jahre darauf mit 36 Jahren. Noch heute berührt sein Anliegen "Nie wieder Hiroshima" bei der Lektüre seiner Zeilen, die auf dem Mahnmal zu Sankichi Toges Ehren verewigt sind:

Gebt mir die Menschen wieder
Gebt mir meinen Vater, meine Mutter wieder

Gebt mir Opa zurück und Oma
Gebt mir meine Söhne und Töchter
Gebt mir mich selbst wieder
Gebt mir die menschliche Rasse wieder
Solange das Leben währt, dieses Leben
Gebt uns Frieden
Der nie endet

Von Sankichi Toge