Jörg Kachelmann und das mediale Nebengericht
Der Fall Kachelmann ist ein Beispiel für die mediale Demontage eines Prominenten. Die Medien haben dabei längt ein "Nebengericht" aufgemacht und ringen um Deutungshoheit.
02.08.2010
Von Michael Ridder

Dieses Detail durfte natürlich nicht fehlen: Ein "blütenweißes Hemd" habe Jörg Kachelmann getragen, als er am Donnerstag überraschend aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, berichteten Agenturen, Internetdienste und Zeitungen. Sein Lächeln sei erleichtert gewesen, das Kinn "selbstbewusst angehoben". Die Flucht in die körpersprachliche Exegese ist ein typischer Medienreflex, wenn Fälle undurchschaubar sind. Im März, als der ARD-Wetterexperte im Hof des Mannheimer Gefängnisses fotografiert wurde, sahen viele Kommentatoren in der ungewohnten Komplettrasur eine besonders geschickte Inszenierungsstrategie, mit der Kachelmann auf seine Offenheit und Unschuld verweisen wolle.

Der Fall Kachelmann ist möglicherweise ein Justizskandal, doch das weiß man noch nicht. Ganz sicher ist er ein Exempel für die Demontage eines prominenten Menschen durch eine Medienmaschinerie, die sich gierig auf jedes Detail in einem Ermittlungsverfahren gestürzt hat - auch auf Aspekte, die mit dem Tatvorwurf gar nichts zu tun haben. Selbst in den Berichten, die sich nicht auf eine bestimmte Sichtweise des Falls festlegten, schwang Empörung darüber mit, dass hier jemand so gar nicht dem Bild entspricht, das er in seinen Fernsehsendungen von sich vermitteln möchte. Der launige Blumenkohlwolken-Erfinder als Egomane, als Brecher ungezählter Frauenherzen – ist so einem nicht auch eine Vergewaltigung zuzutrauen?

Geschickt changiert

Die "Bild"-Zeitung hatte den Fall reißerisch ans Licht geholt, in der Folgeberichterstattung aber auch geschickt changiert. Mal machte sie mit belastenden, mal mit entlastenden Momenten auf. Respekt vor der Privatsphäre des Beschuldigten zeigte sie zu keinem Zeitpunkt. Jede Banalität aus dem Untersuchungsknast-Alltag meldete die mit Informanten stets gut ausgestattete "Bild": wie groß Kachelmanns Zelle ist, was er zum Mittagessen bekommt, ob er nachmittags in der Sonne gelegen hat. Eine große Nachrichtenagentur fabulierte unter der platten Überschrift "Vom Hoch ins Tief" über Kachelmanns "durchwachsenes Image", zu dem auch sein "flaumartiges Gekräusel zwischen Nase und Kehlkopf" beitrage.

An die Spitze der Gegenbewegung zur medialen Vorverurteilung setzte sich Ende Juni die "Zeit", die in einem großen Dossier einige Gutachten, die zum Fall erstellt wurden, auswertete und pro Kachelmann auslegte. Das Fazit des Artikels lautete: Kachelmann ist mit hoher Wahrscheinlichkeit unschuldig, und wenn er einen besseren Verteidiger hätte, wäre er längst aus dem Knast entlassen worden. "Zeit"-Redakteurin Sabine Rückert bemühte sogar das Alte Testament und die Erzählung von der "Vergeltungssucht der zurückgewiesenen Frau", um ihre These zu unterstreichen. Das war weit aus dem Fenster gelehnt, eine Vorfestlegung in die andere Richtung.

Deutungshoheit im Fall Kachelmann

Hans Leyendecker und Nicolas Richter versuchten am 15. Juli in der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), diese Sichtweise ein wenig zurechtzurücken. Penibel listeten sie aus den Gutachten (mittlerweile sollen es 14 sein) Aspekte für und gegen Kachelmann auf, im Ergebnis hielt es sich die Waage. Müßig zu fragen, von welchen interessierten Seiten die Gutachten an "Zeit", SZ und andere lanciert wurden - der Effekt jedenfalls ist verheerend: Die Medien haben einen Kampf um die Deutungshoheit im Fall Kachelmann angezettelt. Sie haben, lange vor der öffentlichen Hauptverhandlung, ein fragwürdiges Vor- und Nebengericht eröffnet. Dabei verlieren sie aus dem Blick, dass sie die Justiz zwar kontrollieren sollen, aber nicht deren Geschäft zu besorgen haben.

"Die Akten zeigen: Der nette Mensch aus dem Fernsehen war kein netter Mensch", formulierte die SZ in der Unterzeile des Kachelmann-Stücks. Das stimmt. Aber für diese Einsicht hätte es den aktuellen Fall nicht gebraucht. Wer sich mit Kachelmann befasst, konnte schon vor Jahren in seiner professionellen Tätigkeit unsympathische Züge entdecken - etwa als er in einer unsäglichen Kerner-Sendung im ZDF gegen den Deutschen Wetterdienst polemisierte. Ob Kachelmann ein netter Mensch ist, ist für das laufende Verfahren jedoch völlig irrelevant. Es geht darum, dass die Staatsanwaltschaft ihm ein schweres Verbrechen vorwirft - und dass er als unschuldig zu gelten hat, solange er nicht rechtskräftig verurteilt ist.


Der Text von Michael Ridder stammt aus der Ausgabe 59/10 des Fachdienstes epd medien.