Auch fernsehen will gelernt sein
Das erste Mal vor der Mattscheibe: Für eine Studie konfrontierten Forscher Menschen in einer abgelegenen türkischen Bergregion erstmals mit den Segnungen des Fernsehens.
30.07.2010
Von Martin Weber

Was geschieht, wenn ein Erwachsener, der noch nie in seinem Leben eine Mattscheibe oder Kinoleinwand gesehen hat, zum ersten Mal mit den "Segnungen" von Film und Fernsehen konfrontiert wird? Dieser Frage sind deutsche und türkische Wissenschaftler mit einem spannenden Experiment nachgegangen, in dem es darum ging, ob das Medium Film aus sich selbst heraus verständlich ist. Sie zeigten 20 Personen, die in einer abgelegenen Bergregion in Ostanatolien leben und noch nie Fernsehen, Film oder andere bewegte Bilder gesehen haben, auf einem Laptop kleine Szenen und befragten sie dazu. Ergebnis der Forschungsstudie, die jetzt vom Institut für Wissensmedien in Tübingen (IWM) veröffentlicht worden ist: Auch Fernsehen ist eine Fähigkeit, die gelernt sein will.

"Die Situation in Ostanatolien war aus Forschungssicht ein seltener Glücksfall", sagt Projektleiter Stephan Schwan vom IWM. Für das Experiment reiste die türkische Filmwissenschaftlerin Sermin Ildriar von der Universität Istanbul in eine abgelegene Bergregion im Süden der Türkei. Ihr Ziel: Menschen, die in teilweise vom Stromnetz abgeschnittenen Bergdörfern in der Nähe von Isparta leben und die bis zur Ankunft der Forscherin keinerlei TV- und Filmerfahrung hatten. Die 20 Testpersonen im Alter zwischen 40 und 81 Jahren wussten zwar, dass es so etwas wie Fernsehen und Kino gibt, hatten selber aber noch nie bewegte Bilder gesehen.

14 Filmclips

Sermin Ildriar führte ihnen auf einem mitgebrachten Laptop 14 kurze Filmclips vor, die extra für das Experiment angefertigt worden waren. Um die Probanden nicht zu überfordern, zeigten die zwischen acht und 56 Sekunden langen Filmchen nicht etwa Ausschnitte aus "Wetten, dass..?" "Tatort" oder "Alarm für Cobra 11", sondern einfache alltägliche Szenen wie Wasser holen, Kochen oder ein Gespräch zwischen zwei Männern.

Anders als bei den ersten öffentlichen Filmvorführungen Ende des 19. Jahrhunderts verwechselte zwar niemand die gezeigten Bilder mit der Realität – keine der Testpersonen reagierte verängstigt oder rannte gar entsetzt davon, wie es angeblich einige Zuschauer getan hatten, die 1896 bei einer Vorführung der Gebrüder Lumière in Paris Angst bekamen, vom einfahrenden Zug im Film überrollt zu werden. Doch hier und da gab es trotzdem große Verständnisprobleme. Vor allem mit filmtypischen Stilmitteln wie dem Einsatz der subjektiven Kamera oder bestimmten Schnitten hatten die anatolischen Probanden ihre Probleme: So konnte keiner von ihnen den Perspektivwechsel in einer Szene nachvollziehen, in der ein Mann zu sehen ist, der auf ein Haus zugeht und anschließend das Innere des Gebäudes aus seinem subjektiven Blickwinkel betrachtet.

Unverständliche Perspektivwechsel

Für die TV-Novizen ebenfalls völlig unverständlich war eine Szene, in der zuerst ein Haus gezeigt wird und nach einem Schnitt eine Frau, die in eben diesem Haus sitzt – der für Zuschauer mit Filmroutine völlig logische Zusammenhang zwischen dem Gebäude und der Person lässt sich für Menschen, die keinerlei Erfahrung mit bewegten Bildern haben, schlichtweg nicht herstellen. Und während manche Testperson intuitiv das so genannte Schuss-Gegenschuss-Verfahren kapierte, bei dem in einer Dialogszene erst der eine, dann der andere Sprecher gezeigt wird, kamen andere nicht damit zurecht. Leichter war es für die Bewohner der abgelegenen Bergregion immer dann, wenn vertraute Handlungsabfolgen und im Alltag oft ausgeübte Tätigkeiten wie etwa das Zubereiten von Tee im Clip gezeigt wurden – dann machten ihnen Stilmittel wie etwa Zeitsprünge oder der Wechsel zwischen zwei zeitgleich ablaufenden Prozessen (im Beispielclip: Eine Frau bereitet eine Mahlzeit vor, während ihr Mann Bauarbeiten verrichtet und anschließend zum Essen kommt) weniger Probleme.

Unter dem Strich widerlegten die Forscher die weit verbreitete Vorstellung, dass das Schauen von Film und Fernsehen der natürlichen Wahrnehmung so ähnelt, dass es auf Anhieb und ohne Vorkenntnisse problemlos möglich ist. Vielmehr sei das Gegenteil richtig, betont Stephan Schwan vom IWM: Die Studie habe "erstmalig empirischen Aufschluss darüber gegeben, dass man auch Film und Fernsehen lernen muss." Ob das Experiment bei den Testsehern aus Ostanatolien den Wunsch nach einem eigenen TV-Gerät geweckt hat, ist indes nicht überliefert.


Martin Weber ist freier Journalist. Er lebt in Berlin.