Es sind selten fröhliche Bilder, die dem Besucher in einem Pflegeheim auffallen: Stille, Menschen im Rollstuhl und an Gehstöcken, Krankheit und Gebrechlichkeit. Aber es gibt auch gemütliche Sitzecken, bunte Bilder an den Wänden, Blumengestecke und Grünpflanzen, manchmal ein Aquarium oder einen Käfig mit Wellensittichen. Die alten Menschen sollen es schön haben, auch wenn die Kräfte nachlassen und das Leben beschwerlich ist.
Beim "Blickausflug" der Wiesbadener Schule Campus Klarenthal, die vom Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau (EVIM) getragen wird, schauten Kinder auf den Alltag im Johann-Hinrich-Wichern-Stift. Von ihnen könne ein anderer Blick erwartet werden als er üblicherweise von Erwachsenen auf ein solches Haus fällt, meint Gabriele Maier, bei EVIM verantwortlich für die Kommunikation und Initiatorin des Projekts. Vorurteile über das Leben in einem Pflegeheim verstellten Erwachsenen oft den Blick für die tatsächliche Situation. Sie sagt: "Wenn sich Bilder erst einmal im Kopf festgesetzt haben, suchen wir immer wieder Bestätigung für diese Bilder. Was anders ist und Wahrnehmungsmuster in Frage stellt, läuft Gefahr, ausgeblendet zu werden".
Und tatsächlich gehen die Kinder unvoreingenommen, aber gleichwohl zurückhaltend auf die alten Menschen zu. Vieles ist fremd, lässt Fragen laut werden. "Warum können Sie denn nicht mehr laufen", fragt Jacqueline. Die alte Dame, die gerade mit Hilfe einer Pflegerin vom Mittagsschlaf aufsteht, scheint diese Frage gar nicht zu hören. Stattdessen erzählt sie, angeregt von der Anwesenheit der Schulkinder, von ihrer eigenen Schulzeit. Die dunklen Haare einer Schülerin wecken Erinnerungen. "Ich hatte damals auch einen Bubikopf", schmunzelt die alte Frau, deren Haare sich nun schneeweiß um ihr vom Leben zerfurchtes Gesicht kringeln.
Zwei Pflanzenfreunde
Ein Zimmer weiter hat Martha Hausner Besuch von Niklas. Sie erinnert sich: "Ich hatte ein Haus mit Garten. Damals habe ich alles selbst gemacht, aber jetzt geht das nicht mehr" – und ihr Blick geht zu mehreren prächtig blühenden Orchideen auf der Fensterbank. Die Exoten in Töpfen, die sie auch vom Rollstuhl aus pflegen kann, müssen nun den Garten ersetzen.
Der elfjährige Niklas ist schon zum wiederholten Mal bei der 81-Jährigen. "In meiner Klasse nennen sie mich den Pflanzenfreak ", sagt er und beschreibt der 70 Jahre älteren Pflanzenfreundin sein Gewächshaus. Dort zieht er exotische Früchte. Beim nächsten Mal, so verspricht er, wird er Martha Hausner einen Ableger mitbringen.
Nicht aus allen Begegnungen entstehen so angeregte Gespräche, nicht immer treffen sich die Interessen von Alt und Jung auf so verblüffende Weise. Doch Annäherung ist an vielen Stellen möglich. Etwa, wenn Ebbi, Merlin und Elvis zu Gast sind. Drei wollige Wolfsspitze kommen regelmäßig mit ihren Besitzern zu Besuch ins Wichern-Stift. Warm und knuffelig wie sie sind, gibt es kaum einen in der großen Runde der Senioren im Aufenthaltsraum, der nicht die Hand ausstreckt und die Hunde streicheln will.
Rasende Reporter
Hier können die Kinder wie die rasenden Reporter auf den Auslöser drücken. "Geh nah ran, noch näher", flüstert Lisa Farkas. Die Fotografin begleitet mit fachlicher Anleitung und viel Einfühlungsvermögen für die alten Menschen das Projekt. In zwei Lerneinheiten hat sie den Kindern nicht nur die Grundbegriffe der digitalen Fotografie beigebracht. Sie hat ihnen auch vermittelt, wie man durch Bildausschnitt und –aufbau und durch den richtigen Hintergrund eine Botschaft rüberbringen kann. Und sie hat immer wieder deutlich gemacht, dass in jedem Fall die Würde der Fotografierten zu achten ist. Das bedeutet: kein Foto ohne vorherige Erlaubnis, kein Betreten der Zimmer ohne vorher anzuklopfen.
Im Gespräch mit Altenpflegeschülerinnen haben die Kinder auch etwas darüber gelernt, was es bedeutet, alt zu sein: wie man sich fühlt, wenn die Bewegungen eingeschränkt sind, wenn die Augen schlechter werden und die Kraft nachlässt. Das hat ihnen ein Gefühl dafür vermittelt, dass die alten Menschen Hilfe und Pflege durch andere brauchen.
Unbefangenheit
Nadine Simon vom Sozialdienst im Wichern-Stift ist beeindruckt von der Unbefangenheit, mit der die Kinder auf die alten Menschen zugegangen sind. Wichtig war ihr, dass die Kinder den Pflegealltag kennenlernten. Auf den Fotos tauchen daher auch Detailaufnahmen auf, die für Pflege stehen: eine Hand, die einen Stachelball hält, der Menschen mit eingeschränkter Motorik dazu dient, ihre Beweglichkeit zu trainieren oder ein Tropf, aus dem einem kranken Menschen Nährflüssigkeit verabreicht wird.
Die Bilder der jungen Fotografen sind schon bei einer Ausstellung im Wiesbadener Rathaus gezeigt worden. Für den Religionsunterricht wurde daraus eine Lerneinheit entwickelt. Gabriele Maier hofft auf Nachhaltigkeit des Projekts. Die Bilder könnten Anregung bieten zu neuen Begegnungen, etwa auch mit Angehörigen und Mitarbeitenden, aber auch Interesse in der Öffentlichkeit wecken, hofft sie. In einem Fall wird die Begegnung zwischen Alt und Jung im Wichern-Stift mit Sicherheit nachhaltig sein: Der Ableger von Niklas wird bei Martha Hausner auf der Fensterbank wachsen.
Lieselotte Wendl ist freie Journalistin. Sie arbeitet in Frankfurt am Main.