Das Bundesverteidigungsministerium gab sich Mühe, der Veröffentlichung von mehr als 90.000 US-Militärdokumenten über den Afghanistan-Einsatz keine allzu große Bedeutung beizumessen. Zwar handele es sich um einen "äußerst bemerkenswerten Vorgang", sagte der stellvertretende Sprecher Christian Dienst in einer ersten Reaktion. Die Dokumente enthielten nach jetzigem Stand aber "nichts Neues im Sinne des Nachrichtenwerts". Deswegen würden sie auch in Ruhe im normalen Dienstbetrieb analysiert: "Es werden hier keine Sonderschichten gefahren, es wird hier niemand aus dem Urlaub zurückgeholt."
Auch Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) machte deutlich, dass er keinen Grund zur Aufregung sieht. Ob die Dateien neue Erkenntnisse enthalten, wollte er zunächst nicht beurteilen. Die 90.000 Dokumente könne man schließlich "nicht innerhalb weniger Stunden lesen", sagte er in einem Phoenix- Interview. Bisher kenne er nur den Bericht des Nachrichtenmagazins "Spiegel" darüber.
Krieg authentisch dargestellt
Die Geschichte des Afghanistan-Konflikts muss nach Veröffentlichung der Dokumente wahrscheinlich nicht völlig neu geschrieben werden. Aber die Protokolle stellen den Krieg authentischer als bisher dar.
Dass sich die Sicherheitslage am Hindukusch seit 2006 drastisch verschlechtert hat, ist längst bekannt. Das gilt auch für den Zuständigkeitsbereich der Bundeswehr im Norden des Landes. Die Anschläge mit Sprengfallen, Raketen oder Panzerfäusten haben auch dort in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Zwischen 2007 und 2009 hat sich die Zahl der "eindeutigen Anschläge" auf die Bundeswehr von 21 auf 77 fast vervierfacht.
Die Dokumente machen deutlich, dass die Realität in Afghanistan auf deutscher Seite lange unterschätzt wurde. Der "Spiegel" zitiert aus einem deutschen Lagebericht vom 31. Mai 2007, in dem es heißt: "Die Sicherheitssituation in der Provinz Kundus wird immer brüchiger und ist nicht stabil." Keine zwei Wochen vorher waren drei deutsche Soldaten bei einem Selbstmordanschlag in Kundus getötet worden.
Kriegerische Auseinandersetzung
In der offiziellen Diktion der Bundeswehr war damals noch von einzelnen "Zellen" die Rede, die Attentate verübten. Und der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) sagte noch Sätze wie: "Der Weg von Stabilisierung und friedlicher Entwicklung in diesem Land" müsse fortgesetzt werden. Dass die Entwicklung schon damals nicht in Richtung Frieden, sondern immer tiefer in eine kriegerische Auseinandersetzung führte, sagte die Regierung zumindest nicht öffentlich.
Zündstoff könnte für die Bundeswehr und das Verteidigungsministerium in dem Teil der Dokumente stecken, in dem es um den Einsatz einer US-Spezialeinheit in Nordafghanistan geht. Unter den im Hauptquartier in Masar-i-Scharif stationierten US-Soldaten sind den Datensätzen zufolge auch 300 Mitglieder der "Task Force 373", die Taliban mit der Order "capture/kill" jagen - verhaften oder töten.
Weitere Aufklärung
Der Ministeriumssprecher Dienst sagte, das Parlament werde "laufend" über die Operationen der Spezialkräfte informiert. Der Auswärtige Ausschuss und der Verteidigungsausschuss des Bundestags seien im Bilde. Inwieweit die Bundeswehr mit den US-Operationen zu tun habe, beschrieb der Sprecher aber einsilbig und umständlich. Hier sei, "die Koordination das vorherrschende Element der parallelen Einsatzführung", sagte Dienst. Im Klartext heißt das: Man achte darauf, das man sich nicht in die Quere kommt.
Die Parlamentarier werden mit ziemlicher Sicherheit weitere Aufklärung über die Operationen der "Task Force 373" verlangen. Der Linken-Abgeordnete Paul Schäfer forderte am Montag als erster eine klare Beantwortung der Frage, "ob die Bundeswehr direkt oder indirekt Unterstützung und Zuarbeit bei gezielten Tötungen geleistet hat".
dpa