evangelisch.de: Herr Müller-Lange, wie haben Sie am Samstag von den schrecklichen Ereignissen in Duisburg erfahren?
Müller-Lange: Wir waren schon seit Beginn der Loveparade mit etwa 15 Notfallseelsorgern vor Ort, um einen Praxistag zu haben. Eine solche Großveranstaltung bietet uns die Möglichkeit, die zur Vorsorge aufgebauten Behandlungs- und Betreuungsplätze in Augenschein zu nehmen. Die Notfallseelsorger haben viel Erfahrung mit Einzelgesprächen, aber weniger mit großen Schadenslagen. Da ist es gut zu wissen: Wie ist ein Behandlungsort aufgeteilt, wo kann Betreuung stattfinden, wenn sie notwendig wird?
evangelisch.de: Dann hörten Sie von der Massenpanik.
Müller-Lange: Ja, zunächst war es eine völlig unklare Lage. Wir hörten, es habe Tote und Verletzte gegeben, und sind zunächst mit zwei Notfallseelsorgern zur Einsatzstelle gefahren. Dort kamen uns dann schon geschockte und aufgebrachte Menschen entgegen. Wir kamen sofort in den Einsatz. Ich habe die restlichen Kolleginnen und Kollegen zusammengerufen, und wir haben schnell mit der Betreuung beginnen können. Wir bekamen die Möglichkeit, Menschen in ein Zelt zusammenzuführen, das von außen abgeschirmt war, so dass man in Ruhe mit ihnen reden konnte. Das ist für die Betroffenen ein Stück weit Sicherheit.
Menschen starben ihnen unter der Hand weg
evangelisch.de: Was ist in solchen Situationen die Aufgabe von Notfallseelsorgern, was können sie leisten?
Müller-Lange: Die Aufgaben sind unterschiedlich. Wir hatten in dieser Situation ganz unterschiedliche Betroffenheiten. Es waren Menschen da, die den Kontakt zu ihren Angehörigen verloren haben - die nicht wussten, wie das Schicksal der Lebensgefährtin oder des Freundes ist. Die Handynetze waren zusammengebrochen, man ist einfach auseinandergerissen worden. Das waren relativ kurze Gespräche – als das Handynetz wieder besser funktionierte, fanden viele ihre Angehörigen wieder. Die zweite Gruppe waren jene, die direkte Augenzeugen waren, die zum Teil noch selber versucht haben, zusammengebrochene Menschen wiederzubeleben, Beatmung versucht haben. Ihnen sind Menschen unter der Hand gestorben. Eine dritte Gruppe waren jene, die unter dem Phänomen der Massenpanik gelitten haben, selber davon erfasst wurden. Sie waren hinterher völlig erschüttert, wie sie reagiert haben - dass sie rücksichtslos über Menschen getreten sind und so weiter.
evangelisch.de: Was sagt man da als Seelsorger?
Müller-Lange: Gerade bei der letzten Gruppe war es besonders wichtig, dass man ihnen gesagt hat: Wenn ich von einer Massenpanik erfasst bin, habe ich auch keine eigenen Steuerungsmöglichkeiten mehr. Meine Reaktion ist völlig normal. Dass ich dann hinterher erschüttert bin und mir Schuldvorwürfe mache, ist verständlich, aber es ist kein moralischer Vorwurf darin zu sehen.
evangelisch.de: Das "Warum" stand sicherlich im Mittelpunkt der Gespräche.
Müller-Lange: Sehr häufig. Aber meistens nicht in dem Sinne, wie Gott das zulassen konnte, sondern eher säkular: Wie konnte das nur so passieren und ein solches Ausmaß annehmen? Darüber war natürlich eine große Erschütterung. Wir hatten darauf keine Antwort, aber wir konnten ernst nehmen, dass das besonders belastend ist.
Erst am Tag danach war Zeit zur Trauer
evangelisch.de: Sie sprechen mit den Menschen, beten vielleicht auch mit ihnen. Wie kann ein Gebet in einer solchen Situation aussehen?
Müller-Lange: Die Klientel war ja nicht gerade eine, wie wir sie vom Kirchentag kennen. Am Samstag wurde nur vereinzelt gebetet. Der Raum der Trauer war der Tag danach. Da sind Menschen gekommen, zündeten Kerzen an und legten Blumen am symbolischen Ort ab, dem Eingang des Tunnels. Pfarrerinnen und Pfarrer haben mit ihnen Gebete gesprochen und kleine Liturgien gestaltet. Da kam all das zum Zuge, was wir als kirchlichen Schatz haben. Es wird in den nächsten Tagen eine Trauerfeier oder einen Trauergottesdienst geben, der vom Land NRW, der rheinischen Landeskirche und dem Bistum Essen gemeinsam verantwortet wird. Da werden Fragen der Trauer auch mit christlichem Gedankengut besonderem Raum haben.
evangelisch.de: Gab es auch Leute, die gesagt haben, mit einem Pfarrer wollen wir jetzt aber nichts zu tun haben?
Müller-Lange: Gar nicht - im Gegenteil. Die Erschütterung war den Menschen abzuspüren. Die Kolleginnen und Kollegen haben sehr intensive Gespräche mit ihnen geführt. Es gab keine ablehnenden Reaktionen. Es war eher eine große Nähe da, und die Fassungslosigkeit stand am Anfang über allem.
Gott lässt uns auch in schlimmsten Situationen nicht allein
evangelisch.de: Sie sind Pfarrer, kein Mediziner. Spürten Sie manchmal auch Hilflosigkeit, den Menschen nicht körperlich helfen zu können?
Müller-Lange: Nein. Wir gehen mit einer Haltung in solche Einsätze, die ich als stellvertretenden Glauben bezeichne. Wir sind überzeugt, dass Gott uns in den schlimmsten Situationen nicht alleine lässt. Das ist zunächst einmal nur eine Haltung, ein Bewusstsein, und drückt sich nicht unbedingt schon in Worten aus. Aber auch diese Haltung wird von den Menschen gespürt, so dass klar wird: Wir haben es durchaus mit religiösen Situationen zu tun.
evangelisch.de: Die Helfer unterstützen die Opfer. Aber wer hilft den Helfern?
Müller-Lange: Als wir gegen Mitternacht die Arbeit einstellten, da der Bedarf nachließ, waren wir 50 Notfallseelsorger und ebenso viele geschulte Einsatzkräfte aus Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten, die in Einsatznachsorge geschult sind. Gemeinsam mit uns psychosozialen Fachkräften sind sie dann, in der Regel zu dritt oder zu viert, in die Gruppen von Rettungskräften gegangen, um diese zu unterstützen. Die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) umfasst immer die Unterstützung der Opfer auf der einen Seite und die Betreuung der Einsatzkräfte auf der anderen Seite. Wir unterscheiden das auch sehr deutlich und schulen unser Personal entsprechend.
evangelisch.de: Gab es unter den Einsatzkräften am Samstag Hilfsbedarf?
Müller-Lange: Es hat schon in der Akutphase Gespräche mit erschöpften Helfern gegeben. Gegenwärtig laufen die Abfragen an alle Hilfsorganisationen, wo es noch Gruppen gibt, die möglicherweise weitere Unterstützung gebrauchen können. Es ist eine zentrale Anlaufstelle für die Helfer eingerichtet, so dass sie sich entweder telefonisch beraten lassen können oder wir mit Einsatznachsorgegruppen in die jeweilige Region fahren. Wir wollen ganz bewusst Opfer und Helfer unterscheiden. Auch wenn ein Helfer im Einsatz etwas Heftiges erlebt hat: Er bleibt Helfer, er wird nicht Opfer.
evangelisch.de: Sie haben langjährige Erfahrung in der Notfallseelsorge. Gab es für Sie am Samstag einen Moment, in dem Sie dachten: Das übersteigt jetzt auch meine Kräfte?
Müller-Lange: Nein. Wir haben Erfahrung in der langen Arbeit nach dem Tsunami, mit dem Düsseldorfer Flughafenbrand und mit Eschede. Die Situation war für mich nie so, dass ich dachte, jetzt werde ich über meine Grenzen hinausgeführt. Es war allerdings schon so, dass unsere Kolleginnen und Kollegen gemerkt haben: Das ist harte Arbeit. Und wir brauchen unsere Zeit, solche Dinge zu verarbeiten. Wir hoffen, dass wir am Wochenende eine abschließende Supervision machen können, so dass wir gezielt und geordnet diese Dinge verarbeiten können – übrigens gemeinsam mit den katholischen Kollegen. Wir haben in weiten Teilen der Notfallseelsorge eine ökumenische Zusammenarbeit.
Pfarrer Joachim Müller-Lange (57) leitet das Landespfarramt für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland. Er koordinierte am Samstag in Duisburg den Einsatz der Notfallseelsorger bei der Loveparade-Katastrophe.