Weit mehr als eine Million Menschen. Lachen. Tanz. Wummernde Bässe. Und keine hundert Meter entfernt zahllose Notarztwagen, Hubschrauber. Auf der einen Seite das pralle Leben. Auf der anderen Seite Wiederbelebungsversuche. Die Bilder bleiben, besonders bei den Eltern und Großeltern, die am Samstagabend nicht wussten, auf welcher Seite sich ihr Sohn, ihre Enkeltochter befindet.
Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen
Wir müssen – wieder einmal – erkennen: Das pralle Leben lässt sich nicht abschotten gegen die Katastrophen. Sie geschehen nicht nur in exotischen Fernen oder irgendwo am unbeleuchteten Rand unserer Wahrnehmung, sondern mitten drin. Am späten Samstagnachmittag unter einer Brücke am alten Güterbahnhof in Duisburg.
Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Auf einer Love Parade, wo die Liebe und das Leben gefeiert wird, schlägt er zu. Wir können die Augen schließen, aber seine Nachbarschaft bleibt bedrohlich, auch am frühen Montagmorgen.
Es gibt Techniken, die Menschen anwenden, um diese Bedrohung aushalten zu können. Die eine Technik ist die Frage nach den Schuldigen. Sicher, diese Frage muss gestellt werden. Wo fahrlässig gehandelt wurde, müssen Menschen zur Rechenschaft gezogen werden.
Und es werden Sätze formuliert, die mit „Hätten sie doch“, „wäre doch“ beginnen. In Gedanken versucht man, die Geschichte noch einmal zurückzudrehen und die Weichen anders zu stellen. Aber das Leben ist kein Spielfilm. Nichts lässt sich zurückdrehen. Wir müssen mit den Katastrophen leben. Uns bleibt nur die Frage: warum? Wem sollten wir sie stellen, wenn nicht Gott? Und wenn er schweigt? Oder wenn wir seine Antwort nicht hören? Auch dann will ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass er schließlich in seinen Händen hält und schützt, was wir längst verloren haben.
Hans Erich Thomé gehört zurzeit zum Autorenteam für den hr1-Zuspruch.