Frau S. ist neu auf der Station, 84 Jahre alt und für ihre kleine Größe recht stattlich gebaut. Mit verwaschener Sprache erklärt sie, ihr gehe es nicht gut. Vielleicht wäre ihr Blutzucker zu hoch? Sofort werden routiniert Blutdruck, Puls und Blutzucker gemessen. Alles in grünem Bereich. Frau S. soll etwas mehr trinken, sich keine Sorgen machen, man würde den Arzt informieren und später erneut alles kontrollieren. Frau S. ist im Krankenhaus, weil sich die Nierenwerte, Atmung und ihr Allgemeinbefinden massiv verschlechtert haben. Sie konnte immer weniger alleine machen, sie fühlte sich sehr schwach in den letzten Tagen. Im Krankenhaus soll ihr geholfen werden, mit allen Mitteln, die die moderne High-Tech-Medizin so bietet.
Keine der Schwestern kennt Frau S. länger als einen Tag. Man berät sich im Team. Vielleicht einfach zimperlich? Aber verwaschene Sprache? Meist ein Warnhinweis. Aber es scheint nichts Akutes zu sein, dafür sind die Vitalzeichen zu normal – oder anders gesagt: Es geht ihr noch ganz gut. Der Arzt wird angerufen und informiert, die Krankenschwestern wollen auf Nummer sicher gehen. Eine Patientenverfügung hat Frau S. nicht.
"Das hätte sie nicht gewollt"
Frau S. meldet sich erneut. Sie wirkt noch eingetrübter, man versteht sie nun kaum noch. Ihr gehe es nicht gut. Jetzt klingeln alle Alarmglocken. Alles wird nochmal durchgecheckt, aber alle Werte sind normal. Der diensthabende Arzt braucht eine Stunde, um den Sauerstoffgehalt des Blutes zu messen. Schlecht, aber nicht schlechter als bisher bekannt. Trotzdem: Frau S. ist kaum mehr erweckbar. Ihr Gesicht eingefallen und blass bläulich. Jetzt geht die Hektik los. Mehr Flüssigkeit, den Sauerstoff aufdrehen. Und zwischendurch noch die aufgeregten Angehörigen beruhigen, die wie aus dem Nichts in großer Zahl aufgetaucht sind. Mit hochrotem Kopf will der Sohn wissen, was los sei. Der Arzt sagt, man müsse erstmal abwarten und schauen, ob Frau S. eine Reaktion auf die eingeleiteten Maßnahmen zeigt.
Wie eingesperrte Wildkatzen tigern Sohn und Tochter die nächste Stunde auf dem Gang entlang, während die Schwester am Bett sitzt und die Hand von Frau S. hält. Das Gesicht der Patientin ist fahl. Die Augen nicht ganz geschlossen und man erkennt einen leeren Blick ins nirgendwo. Die Haare, die vermutlich mal per Dauerwelle in Form gehalten wurden, fallen ihr wild ins Gesicht, sie atmet kaum noch sichtbar. Das Stationsteam weiß, eigentlich gehört die Patientin auf die Intensivstation, zur besseren Überwachung. Doch die Angehörigen sind davon nicht begeistert, sie wollen lieber abwarten. Praktisch, denn zur Zeit ist eh kein Bett auf der hauseigenen Intensivstation frei. Nervös schauen die Schwestern alle 15 Minuten im Patientenzimmer vorbei.
Mittlerweile ist es 18 Uhr. Die Hintergrundärztin, um diese Uhrzeit für das gesamte Krankenhaus verantwortlich, wird informiert. Sie kommt sehr schnell, verschafft sich einen Überblick und drängt auf eine Verlegung auf die Intensivstation. Endlich. Doch da machen die Angehörigen nicht mit. Das hätte die Mutter nicht gewollt, sagt der Sohn, sie solle doch bitte in Frieden einschlafen dürfen. Er fuchtelt nervös mit den Händen vor der Ärztin herum, zeigt auf seine Mutter. Hinzu kommt, dass Frau S. dafür auch in ein anderes Krankenhaus verlegt werden müsse. Nein, das hätte sie nicht gewollt, sie fühle sich eng verbunden mit diesem Krankenhaus, beharrt der Sohn. Wenn, dann solle sie hier sterben. Das hätte sie so gewollt. Sie ist doch schon lange krank gewesen, das Leiden solle man ihr ersparen.
Das Leben zu verlängern ist der juristisch sichere Weg
Die Ärztin versucht, zu beschwichtigen. Es ist ihre Pflicht, alles zu versuchen, Frau S. am Leben zu erhalten. Man wisse ja nicht, was überhaupt los sei, die Mutter könne nach der Behandlung wieder gut dran sein. Man müsse erstmal den Zustand stabilisieren, dann weitersehen. Der Sohn wirkt nun fast verzweifelt. "Das hätte die Mutter nicht gewollt." Und dann auch noch in ein anderes Krankenhaus, "da kann man sie gleich mit den Füßen voran raus fahren."
Die Ärztin fragt nach etwas Schriftlichem, eine Patientenverfügung oder ähnliches. Ob es einen festgelegten Betreuer gebe? Nein, alles nicht. Man müsse das mal recherchieren. Der Sohn hängt sich also an das Telefon neben dem Bett seiner unerweckbaren Mutter, um heraus zu finden, ob der Wille der Mutter, in Frieden sterben zu können, irgendwie hinterlegt ist. In der Zeit ziehen sich Ärzte und Schwestern zur Beratung zurück. Die Ärztin sagt klar, es wäre ihre Pflicht, diese Frau nun auf Intensivstation zu verlegen. Der Sohn wäre sich ja nicht über die Konsequenzen im Klaren. Und damit verschwindet sie bestimmten Schrittes von Station.
Patientenverfügungen sind in Deutschland inzwischen erlaubt. Viele Patienten haben allerdings keine, die rechtliche Unsicherheit der Ärzte ist groß. Im Zweifelsfall folgen sie ihrer Berufung und entscheiden für das Leben, im Zweifel auch gegen den Willen von Angehörigen. Denn ohne eine eindeutige schriftliche Verfügung können sie nichts unternehmen, was gegen ihre Aufgabe verstößt: Menschen heilen, Leben verlängern. Juristisch sind die Ärzte damit immer auf der sicheren Seite.
Der Kompromiss nimmt den Angehörigen die Entscheidung ab
Auf Station Josef versuchen die Schwestern wieder Ruhe in die Situation zu bringen. Sie sprechen wieder mit den Angehörigen. Zusammen sitzen sie am Tisch im Patientenzimmer, der mit Blumen aus einer Zeit gedeckt ist, in der man noch an "Gute Besserung" geglaubt hat. Frau S. hat keinen schriftlichen Willen hinterlassen, nirgendwo ihre Wünsche aufgeschrieben. Das ist bei vielen so: Die Beschäftigung mit dem eigenen Tod und Sterben fällt vielen Menschen schwer, es ist das Unvorstellbare, dass sie in Worte fassen sollen.
Die Schwestern fragen die Familie, ob sie sicher seien, dass keine Therapie mehr folgen soll. Die Chancen wären groß, den Zustand von Frau S. zu verbessern. Soll man den Versuch wirklich unterlassen? Die Angehörigen kommen ins Grübeln. Die Schwester wendet ihren Blick nicht von dem Bett der Kranken ab. Was aber klar ist: Keine Verlegung in ein anderes Haus, auch wenn das den Tod von Frau S. bedeutet, da sind sich alle Angehörigen einig.
Dann endlich der erlösende Anruf: Ein Bett auf der hauseigenen Intensivstation ist frei geworden. Frau S. wird noch in das Röntgengerät geschoben, um eine Hirnblutung auszuschließen, dann kommt sie auf die Intensivstation. Die Angehörigen sind nun doch erleichtert, der Kompromiss nimmt ihnen die Last der Entscheidung.
Wann ist zu früh, wann ist zu spät?
Es ist nicht nur die Patientenverfügung, die diesen Konflikt lösen kann, auch Betreuungsverfügungen und Vorsorgevollmachten können helfen. Hat man sich vorher mit der Familie über das eigene Sterben auseinandergesetzt, können sie zusammen mit den Ärzten – oder manchmal auch gegen sie – eine Entscheidung im Sinne des Patienten fällen.
Aber auch wenn eine Patientenverfügung vorliegt, ist die Einigung zwischen Angehörigen und Medizinern oft schwierig. Wann ist ein Ende wirklich absehbar? Für die einen zählt der Wille ihres Verwandten, den sie zu kennen glauben. Die anderen müssen das Wohl des Patienten sichern – und das ist zuallererst definiert als Leben, die Verringerung von Leiden steht weiter unten auf der Liste, ein Zustand, den Palliativmediziner durchaus kritisieren.
Wann gibt man auf, wann lässt man jemanden in Frieden sterben? Die Standardantwort vieler Ärzte lautet: Möglichst nie, so lange man das Leben noch erhalten kann. Frau S. profitiert davon. Sie kommt nach zwei Tagen von der Intensivstation zurück, wach und lebendig: Ihre Symptome lagen an einem zu niedrigen Blutzucker, das Gerät der Station hatte falsch gemessen – zweimal hintereinander. Ohne die Überwachung auf der Intensivstation hätte Frau S. möglicherweise nicht überlebt. Die Debatte um die Patientenverfügung macht das jedenfalls nicht einfacher.
Milena da Costa hat die Geschichte von Frau S. auf der Station J. miterlebt und für evangelisch.de aufgeschrieben.