Als Heinrich Kämper endlich in Santiago de Compostela vor der Kathedrale steht, schießen ihm Tränen in die Augen. Zum einen ist da die Freude, es geschafft zu haben. "Ich muss aber auch an meine Frau denken", sagt der 81-Jährige. Sie starb 2008, fast 50 Jahre lang war das Paar verheiratet. Ihr Tod war mit ein Grund, warum sich der frühere Maschinentechniker aus Nordrhein-Westfalen als Pilger auf den Jakobsweg begeben hat,
"Es war auch eine Bewährungsprobe", erzählt er. Das ist seelisch wie körperlich gemeint. Denn noch vor eineinhalb Jahren war er teilweise gelähmt und konnte nicht sprechen: Nach einem Sturz hatte sich ein Blutgerinnsel im Gehirn gebildet. Auf die Operation folgte eine mühsame Rehabilitation. Und doch hat Kämper es geschafft. Mit seinem Rucksack legte er zu Fuß in sechs Wochen die fast 800 Kilometer von Saint-Jean-Pied-de-Port in Südfrankreich bis nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens zurück.
Katholiken erhalten Sündenablass
Dort, in der Hauptstadt Galiciens, befindet sich der Legende nach das Grab des Apostels Jakob, dessen spanischer Name Santiago ist. Er ist auch der Schutzheilige Spaniens. Wenn sein Namenstag - wie in diesem Jahr - am 25. Juli auf einen Sonntag fällt, feiern die Christen ein Heiliges Jahr (Xacobeo). Das nächste findet erst 2021 statt. Nach kirchlicher Tradition erhalten alle Katholiken, die im Jakobsjahr das Grab des Apostels in der Kathedrale besuchen und die Beichte ablegen, einen vollständigen Sündenablass.
Darum ging es Kämper aber nicht. "Ich habe gehofft, Gott zu finden." Ob ihm dies gelungen ist, behält er für sich. Der 81-Jährige lief bei strömendem Regen und auch bei brütender Hitze. "Es ging am Ende aber schneller, als ich dachte", findet er. Am schlimmsten sei es bei Burgos gewesen, da wanderte er 31 Kilometer an einem Tag. "Es war sehr heiß. Da habe ich mich übernommen." Wie er denn auf den Jakobsweg gekommen sei? «Mein Sohn hat mir das Buch von Hape Kerkeling ('Ich bin dann mal weg') geschenkt, und ich hatte mir eine Dokumentation im Fernsehen angeschaut."
Neue Freunde gefunden
Gefunden hat Kämper auf jeden Fall neue Freunde. Wie Fernando und Raquel. Der 35 Jahre alte spanische Kameramann und seine Freundin (31) schlossen den Deutschen ins Herz und wanderten die letzten 180 Kilometer mit ihm zusammen. Gemeinsam übernachteten sie auch in den Herbergen entlang der Strecke. Da Kämper kein Spanisch spricht, verständigten sie sich in gebrochenem Englisch und mit Zeichen.
"Heinrich ist für uns ein Vorbild", sagt Fernando. "Die jungen Leute haben mich motiviert", entgegnet der 81-Jährige. "Dass mir so viel Hilfe und Unterstützung zuteil werden würde, hätte ich nicht gedacht", ergänzt er. Gerade das macht für viele eine Wanderung auf dem Jakobsweg zu einem unvergesslichen Erlebnis. Die Pilger entwickeln ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das manchmal ein ganzes Leben hält - so wie bei einem Paar aus Stuttgart, das sich auf dem Jakobsweg kennenlernte und später heiratete.
"Buen Camino", rufen sich die Menschen zu
Der Weg sei das eigentliche Ziel, sagen viele, die die Wallfahrt als Prozess der Selbstfindung oder der Neuorientierung erleben. "Buen Camino!" (einen guten Weg), rufen sich die Menschen zu, die sich auf der Strecke begegnen. Wegen des Heiligen Jahres sind es in diesem Jahr besonders viele: Seit Januar wurden bereits rund 114.000 Pilger gezählt, darunter etwa 7.500 Deutsche. Viele zieht auch das umfangreiche Kulturprogramm des Xacobeo an.
Nicht alle laufen freilich die 800 Kilometer - und nicht alle schleppen ihren Rucksack: Für drei Euro pro Etappe kann man sich diesen auch von einem Taxiservice von einer Herberge zur anderen liefern lassen. Um die "Compostela" genannte Urkunde zu erhalten, die die Wallfahrt bescheinigt, reicht es, die letzten 100 Kilometer zu Fuß oder die letzten 200 Kilometer per Fahrrad oder Pferd auf dem Jakobsweg zurückgelegt zu haben. Als Beleg dient der Pilgerausweis, der entlang der Strecke in Herbergen und Kirchen abgestempelt wird.
Auch Heinrich Kämper hat seine "Compostela" erhalten. Der Weg war für ihn in Santiago aber noch nicht zu Ende: Er fuhr noch mit dem Bus zum Kap Finisterre und verbrachte einige Tage an dem Ort, wo nach altem Glauben die Welt endete. Inzwischen ist er in Deutschland zurück - und denkt etwas wehmütig an den "Camino" zurück. "Ich fühle eine große Leere um mich herum", sagt er.