Zu Hause in zwei Welten: Kein Kopftuch und kein Sex vor der Ehe
Leyla ist Türkin aus Deutschland, eine der Millionen Deutsche mit türkischen Wurzeln. Sie fühlt sich in beiden Kulturen daheim, ohne sich dabei zu verbiegen.
21.07.2010
Von Maike Freund

Im Oktober ist es soweit. Bis dahin ist noch so viel zu tun. Das Kleid, die Unterbringung der Gäste, überhaupt die ganze Planung der Feier. 1.000 Gäste werden zum Fest kommen, traditionell wird es werden. Denn für Türken zählt nicht das Ehegelöbnis im Standesamt. Als Türkin gilt man erst als verheiratet, wenn alle es wissen.

Also wird es eine große Feier werden. Mit allem, was dazu gehört: Dem traditionellen Frisörbesuch am Tag des Festes mit Freundinnen und Familie, dem Einschließen der Braut und dem Zoll, den der Bräutigam und seine Familie zahlen müssen, um die Braut von den Eltern frei zukaufen. Dem Tanz und natürlich den Geschenken: Geld für den Bräutigam, Gold für die Braut. Erst dann wird sie mit ihrem Mann in eine Wohnung ziehen, erst dann wird sie das erste Mal mit ihm schlafen, das erste Mal überhaupt mit einem Mann.

Den Koran auf türkisch und auf deutsch lesen

Leyla Yilmaz (Name geändert) ist 24, lebt in Köln, ist Deutsche mit türkischen Wurzeln. Sie fällt in jene Generation, der die Bezeichnung "mit Migrationshintergrund" und somit mangelnder Integration anhaftet. Ob sie sich als Deutsche oder Türkin fühlt? "Als Türkin", sagt sie. "Eigentlich als Deutsche", schiebt sie hinterher. Und sagt dann: "Ich bin beides". Leyla gehört zu der Nachwuchsgeneration, die in beiden Welten verhaftet ist, die sich nicht entscheiden will und nicht entscheiden muss, zu welcher Kultur sie gehört. Die beides haben kann.

Der muslimische Glaube ist ihr wichtig, Toleranz noch wichtiger. "Religion ist ein Teil meines Lebens, aber sie bestimmt mich nicht." Sie betet, wenn auch nicht fünf Mal am Tag, hat den Koran gelesen – auf türkisch und auf deutsch –, geht an hohen Feiertagen in die Moschee, hält sich an bestimmte Regeln, zum Beispiel an das Gesetz, keinen Sex vor der Ehe zu haben. Über anderes setzt sie sich hinweg. Sie trägt kein Kopftuch, sie bedeckt ihre Knöchel nicht, sie geht auf türkische Partys und in deutsche Clubs, trinkt Alkohol und raucht auch mal. Sie hat deutsche und türkische Freunde. Sie fühlt sich in beiden Kulturen zu Hause, aber sie akzeptiert nicht alles, nur weil beide Traditionen zu ihrem Erbe gehören.

Ihr Vater kommt vom Schwarzen Meer, jetzt ist er pensioniert, auch ihre Mutter ist in der Türkei geboren, sie arbeitet in Deutschland als Putzfrau. In der Türkei zu wohnen, kann Leyla sich nicht vorstellen. Zu engstirnig, zu traditionell, zu konservativ empfindet sie das Leben dort. Nach dem Türkeiurlaub freut sie sich, wenn sie wieder in Deutschland ankommt. Deutschland – ihr Zuhause. Zuhause, das ist der Kölner Nord-Osten, wo Leyla mit zwei ihrer insgesamt fünf Geschwistern bei den Eltern lebt. Zuhause sprechen sie Türkisch und Deutsch: unter den Geschwistern meistens Deutsch, mit den Eltern Türkisch – die Mutter spricht nur wenig Deutsch – manchmal ein Gemisch aus beidem.

Keinen Deutschen, aber auch keinen prolligen Türken

Sie kann verstehen, dass Deutsche fordern, Muslima sollten in Schulen kein Kopftuch tragen. "Warum sollten Deutsche das nicht fordern, wenn es an den Universitäten in der Türkei verboten ist?", sagt sie. Aber sie wünscht sich, dass es in der Türkei anders wäre, "weil es die Hürde für Frauen, eine Universität zu besuchen, verringern würde". Sie selbst hat eine katholische Grundschule besucht, mit türkischen Wurzeln waren sie zu zweit in der Klasse. Sie glaubt, dass ihr das geholfen hat, sich zu integrieren. Wenig Verständnis hat sie für die Türken, die ihre Kinder nicht darin fördern, die deutsche Sprache und Kultur zu lernen. Nur wenn es um den Konflikt im Nahen Osten geht, dann wird sie stur. Mit einem Juden will sie gerade nicht diskutieren müssen.

Jetzt also wird sie heiraten. Seit einem Jahr ist sie verlobt, seit vier Jahren mit ihrem 26-jährigen Verlobten zusammen, der auch Deutscher mit türkischen Eltern ist. Leyla sagt, es wäre für sie nicht in Frage gekommen, einen Deutschen zu heiraten. Auch ihren Eltern war das wichtig. Aber sie wollten auch keinen prolligen Türken für ihre Tochter, keinen, der sich nicht zu benehmen weiß, der die Sprache des alten und neuen Heimatlandes nicht beherrscht, der weder die türkische noch die deutsche Kultur respektiert. "Vor allem wollen sie, dass ich glücklich werde – das, was Eltern auf der ganzen Welt ihren Kindern wünschen", sagt Leyla. Ihre Eltern sagten zu ihr, nachdem sie den Verlobten ihrer Tochter kennen gelernt hatten: "Wir haben dir beigebracht, was gut und was schlecht ist. Es ist dein Leben, entscheiden musst du selbst, was dich glücklich macht."

Verboten habe ihre Eltern ihr nie etwas. "Natürlich haben sie gesagt: Rauch nicht, trink nicht." Aber sie durfte weggehen, über Nacht bei Freundinnen bleiben. Selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen will. Ihre Schwester studiert Psychologie in Dortmund. Im kommenden Semester will sie nach Köln zurückkommen. Einziehen will sie Hause nicht mehr. Auch das ist für die Eltern in Ordnung. Überhaupt ist ihr Elternhaus liberal, findet Leyla: Ihr Vater ließ sich scheiden, nicht üblich bei Muslimen. Zu ihren zwei älteren Halbgeschwistern hat Leyla ein gutes Verhältnis, genauso wie zur früheren Frau ihres Vaters, die die Familie häufig besucht.

Die Sache mit dem Sex

Und dann ist da noch die Sache mit dem Sex. Aufgeklärt haben ihre Eltern sie nicht, Sex war einfach nie ein Thema. Theoretisch weiß sie natürlich, was sie erwartet. In einer Gesellschaft, in der Sex Teil jedes Fernsehprogramms ist, könnte es auch nicht anders sein. Und sie hat mit Freundinnen darüber geredet. Trotzdem hat sie Angst vor dem ersten Mal, davor, dass es wehtun könnte. Auch mit ihrem Verlobten hat sie über Sex gesprochen, aber nur kurz, es ist ihr peinlich. Ob sie nie beim Küssen das Bedürfnis hatte, weiter zu gehen? "Nein", sagt sie. Aber wegen ihres Glaubens hätte sie das Gefühl auch nicht zugelassen. Und wenn muslimische oder christliche Freundinnen ihr vom Sex erzählen würden, obwohl diese nicht verheiratet seien? "Dass ich warten will, ist meine Entscheidung, was andere machen, ist ihre Entscheidung." Sie verurteilt sie nicht, genauso wenig wie sie verurteilt werden will für ihren Weg. Weder von Deutschen noch von Türken.

Manchmal bekommt sie es trotzdem zu spüren, dass sie sich ihren eigenen Weg zwischen den beiden Kulturen sucht. Von muslimischen Männern oder Frauen in Deutschland, die sie kritisieren, weil sie kein Kopftuch trägt oder ein T-Shirt, das ihre Arme frei lässt. "Die fühlen sich als die besseren Muslime", sagt Leyla. Oder von Deutschen, die nicht verstehen können, dass sie mit 24 noch keinen Sex hatte. Aber sie hat für sich entschieden, dass das Schwachsinn ist. Es geht ihr nicht darum, Traditionen zu befolgen oder sie zu brechen, sie will ihren eigenen Weg finden, ohne sich zu verbiegen.

"Es ist euer Leben, entscheiden müsst ihr selbst"

Sie heiratet, weil sie weiß, dass sie den Mann fürs Leben gefunden hat. Ihr Verlobter ist alles, was sie an einem Mann schätzt: liebevoll, sanft, geduldig. Und sie liebt ihn. Sehr sogar, es ist ihr ausschlaggebender Grund. Sie findet nicht, dass sie zu jung zum Heiraten ist. Im Gegenteil. Sie glaubt, sie ist alt genug, um diese Entscheidung zu treffen, um die Verantwortung für ein gemeinsames Leben mit ihrem Mann zu tragen. Mit Kindern wollen beide noch warten; wenn es nach Leyla geht, bis sie 30 ist. Nur Hausfrau und Mutter sein will sie nicht, sie will lieber arbeiten.

Was ihr Mann dazu sagt? "Das ist mir egal", sagt sie. Es hört sich sehr bestimmt an. Erstmal will Leyla ohnehin ihre Ausbildung zur zahnmedizinischen Assistentin beenden und in ihrem Beruf arbeiten. Und wenn ihre Kinder einmal einen Deutschen, einen Christen heiraten wollen? Dann sei das eben so, sagt sie. "Dann werde ich ihnen sagen: Ich habe euch beigebracht, was gut und was schlecht ist. Es ist euer Leben, entscheiden müsst ihr selbst, was euch glücklich macht."


 

Maike Freund ist freie Journalistin in Dortmund.