Experte: Zusatzbeiträge werden steigen müssen
Die Kritik an der Gesundheitsreform der schwarz-gelben Bundesregierung reißt nicht. Insbesondere die steigenden Zusatzbeiträge, die allein Beschäftigten aufgebürdet werden, stehen im Fokus. Der Gesundheitsexperte Jürgen Wasem mag aber noch nicht von einem Systemwechsel sprechen und kritisiert den mangelnden Reformwillen der Regierung.
20.07.2010
Die Fragen stellte Dirk Baas

Die Koalition hat sich auf einen Kompromiss zur künftigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen geeinigt. Doch die Kritik daran reißt nicht ab. Mit dem Essener Professor für Medizinmanagement, Jürgen Wasem, sprach Dirk Baas über die langfristigen Folgen der umstrittenen schwarz-gelben Reformbeschlüsse.

Verdient diese Reform das Prädikat "Systemwechsel", wie vor allem die FDP glaubhaft machen will?
Jürgen Wasem:
Auf kurze Sicht fällt die Veränderung eher gering aus: Die Begrenzung des Zusatzbeitrages auf ein Prozent der beitragspflichtigen Einkommen der Krankenkassen-Mitglieder fällt weg und er muss künftig einkommensunabhängig ausgestaltet werden. Dafür gibt es bei zwei Prozent der beitragspflichtigen Einkommen einen Sozialausgleich. Ein "Systemwechsel" kann daraus erst auf längere Sicht werden.

Unter welchen Bedingungen?
Wasem:
Wenn der Beitragssatz von Arbeitgebern und Versicherten dauerhaft festgeschrieben wird. Dann gehen wachsende Gesundheitsausgaben alleine in den einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag. Hält die Politik das lange durch, wird der wachsende Zusatzbeitrag irgendwann das bestimmende Element. Dann ist es gerechtfertigt, von einem "Systemwechsel" zu sprechen.

Die SPD kritisiert, durch die Beschlüsse werde die "Kopfpauschale" durch die Hintertür eingeführt. Doch die jetzigen Beschlüsse haben mit dem Kopfprämien-Modell reinster Prägung nur wenig gemein.
Wasem:
In der Tat gibt es zur "richtigen" Kopfprämie zwei wesentliche Unterschiede: Es bleibt auch hinsichtlich des Zusatzbeitrags bei der bisherigen beitragsfreien Familienversicherung für Kinder und nicht-erwerbstätige Ehegatten, während bei der reinen Kopfprämie zumindest alle Erwachsenen einen Beitrag zahlen sollten. Anders als die reine Kopfprämie finanziert der Zusatzbeitrag auch nicht alle Ausgaben der Kassen, sondern zunächst nur zwei bis drei Prozent. Aber: Wenn die Regelungen langfristig unverändert bleiben, wächst der Zusatzbeitrag zunächst zur kleinen und dann zur größer werdenden Gesundheitsprämie heran.

Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass die Belastungen der GKV-Mitglieder künftig dauerhaft steigen?
Wasem:
Die jetzt gefundene Regelung bewirkt, dass Ausgabensteigerungen, die stärker als die Einkommensentwicklung sind, alleine von den Versicherten über den Zusatzbeitrag getragen werden. Ich gehe davon aus, dass Alterung und medizinischer Fortschritt auch in Zukunft nicht zum Nulltarif zu haben sind. Die Zusatzbeiträge werden regelmäßig ansteigen müssen.

Krankenkassen, Pharmaindustrie, Ärzte und Kliniken kommen beim Sparen wohl vergleichsweise glimpflich davon.
Wasem:
Ich finde es zunächst einmal wichtig, dass die elf Milliarden Euro Defizit der Krankenkassen, die es ohne die Reform im nächsten Jahr gäbe, nicht zulasten der Patienten hereingeholt werden, etwa, indem der Zahnersatz oder private Unfälle als Kassenleistung gestrichen werden. Das wäre eindeutig der falsche, weil sozial nicht ausgewogene Weg. Bei schärferen Einschnitten bei den Ärzten oder Krankenhäusern ist es nicht unwahrscheinlich ist, dass die einen Teil der Umsatzeinbußen durch Qualitätseinschränkungen an die Patienten weiter geben. Kurzfristige Einsparungen bei den Leistungserbringern muss man daher mit Augenmaß handhaben. Bedauerlich aber finde ich, dass die Koalition keine Kraft gefunden hat, die im Gesundheitssystem schlummernden Wirtschaftlichkeitsreserven anzugehen. So steht etwa jedes vierte Krankenhausbett leer, verursacht aber Kosten.

Die SPD hat angekündigt, die Reform zu kippen, falls es bei der nächsten Bundestagswahl zu einem Regierungswechsel käme. Sie setzt auf die "Bürgerversicherung", will also alle Formen von Einkommen zur Finanzierung des Gesundheitswesens nutzen. Ist das ein realistischer Ansatz?
Wasem:
Das Modell ist mit einer Reihe von Umstellungsproblemen verbunden, etwa, weil die Privatversicherten dort ja Alterungsrückstellungen gebildet haben, auf die sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch haben. Aber es würde die systematische Einnahmenschwäche der GKV beheben. Politisch halte ich die Durchsetzbarkeit für schwierig.

Viele Bürger zeigen wenig Verständnis dafür, dass sich Gutverdiener mit dem Wechsel in die Privatversicherungen der solidarischen Finanzierung des Gesundheitssystems entziehen, während im GKV-System der Kollaps droht. Hat das Nebeneinander der Systeme eine Berechtigung?
Wasem:
Ein "einheitliches Versicherungssystem", bei dem für alle gleiche Spielregeln bei der Beitragsgestaltung gelten und keine Gruppe besonderen Wechselrechte hat, ist sicherlich sinnvoll. Das sollte aber keine "Einheitskasse" sein. In den Niederlanden hat man 2006 ein Versicherungssystem ohne Unterschiede zwischen gesetzlichen und privaten Kassen geschaffen, in dem Wettbewerb um die Versicherten herrscht. Auf der Finanzierungsseite ist es eine Mischung auf Bürgerversicherung und Kopfprämie. Das ist ein Beispiel für einen gelungenen Kompromiss.

epd