Aus voller Kehle: Stadtvögel übertönen den Lärm
Halb vier Uhr morgens und schon geht das Vogelkonzert in der Stadt los – und das lauter als je zuvor. Denn die veränderte Umwelt wirkt sich auch auf den Gesang der Vögel aus.
19.07.2010
Von Maike Freund

Noch bevor es hell ist, fangen sie an zu singen: Die Stadtvögel. Oder besser gesagt: die Männchen, denn die sind es in der Regel, die in den gemäßigten Breiten wie hier in Deutschland das Vogelkonzert anstimmen. Dass sie in der Stadt lauter singen als ihre Artgenossen im Wald, ist nicht nur eine Vermutung. Tatsächlich fanden Forscher heraus, dass Vögel in Städten lauter singen als Vögel der gleichen Art an leiseren Stellen. "So wie Menschen auf einer lauten Party automatisch lauter reden, verhalten sich auch Vögel", sagt Henrik Brumm. Der Grund: Stadtlärm.

Brumm arbeitet am Max-Planck-Institut für Ornithologie. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Vögel miteinander kommunizieren und wie sie ihre Signale an die Umwelt anpassen. In den vergangenen Jahren ist das Thema Lärmbelästigung, vor allem durch den angestiegenen Verkehrslärm und wachsende Urbanisierung, immer wichtiger geworden. "Langsam fragt man sich auch, welchen Effekt die Umweltveränderung auf die Vogelwelt hat. Denn die Umweltbelastung ist ja nicht nur eine chemische", sagt Brumm.

"Lärm ist ein grundsätzliches Kommunikationsproblem"

Brumm und sein Team untersuchten Lärm und Gesang in verschiedenen Habitaten und analysierten die Aufzeichnungen per Computer. Sie nahmen den Gesang der Nachtigall in Berlin an verschiedenen Stellen auf. Das Ergebnis: Die Tiere an lauten Straßen singen lauter als ihre Artgenossen an leisen Straßen. Die Forscher fragen jedoch auch nach dem Zusammenhang zwischen Lärm und lautem Gesang. Deshalb untersuchten sie Nachtigallen in schallisolierten Volieren und spielten ihnen künstlich generierten Lärm per Lautsprecher vor. Die Reaktion: Auch hier sangen die Vögel lauter.

"Das ist für uns ein Hinweis dafür, dass es tatsächlich der Verkehrslärm ist, der die Tiere in der Stadt lauter singen lässt", sagt Brumm. Neben Nachtigallen untersuchten sie auch noch Amseln und Kohlmeisen, jene Vögel, die man in der Stadt am häufigsten antrifft. Noch wird das Material analysiert. "Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Anpassung der Lautstärke bei diesen Arten genauso stattfindet, denn bisher zeigen alle Tierarten, die man bisher daraufhin untersucht hat, diesen Effekt." Dabei sei es für die Vögel ganz egal, ob sie den Gesang aufgrund eines Autos, eines Wasserfalls oder wegen eines anderen Vogels, der in der Nähe sitzt, anpassen: "Lärm ist für Vögel ein grundsätzliches Kommunikationsproblem."

Welche Auswirkungen das ständige Brüllen für die Vögel hat, erforschen Brumm und sein Team noch. Klar ist bereits: Vögel verbrauchen mehr Energie für den lauten Gesang. Erste Ergebnisse zeigen aber, "dass der Energieverbrauch sehr gering und gar nicht zu vergleichen mit anderen Tieren ist, beispielsweise Insekten, für die ist es sehr teuer, Schall zu produzieren." Denn Vögel seien von der Evolution so darauf getrimmt, laut und lange zu singen, dass es sie nicht viel Anstrengung koste, etwa wie ein gut trainierter Opernsänger, für den zwei Stunden Singen am Stück kein Problem ist.

Wer zu laut ist, kriegt von den Nachbarn eins aufs Dach

Allerdings hat der Gesang aus voller Kehle andere Kosten für die Vögel als den erhöhten Energiebedarf. Greifvögel nutzen den Gesang dazu, um Beute zu finden - sie haben es leichter, wenn die Stadtvögel aus voller Kehle trällern. Vögel benutzen ihren Gesang auch, um ganz gezielt andere Männchen zu vertreiben. "Das heißt aber auch, dass andere Männchen aggressiver auf das singende Männchen reagieren. Der laute Gesang hat also soziale Kosten zur Folge. Kurz gesagt: Sie kriegen einfach etwas von ihren Nachbarn aufs Dach", erklärt Brumm. Das Problem sei also, genau die Lautstärke zu finden, die andere Männchen auf Distanz hält, sie aber gleichzeitig nicht aggressiv macht. Und der Gesang müsse laut genug sein, um die Kommunikation zu den anderen Tieren überhaupt stattfinden zu lassen.

Auch mit der Frage, welche Variablen Vögel dazu bringen, lauter oder leiser zu singen, beschäftigt sich der Forscher. "Zebrafinken benutzen ihren Gesang zum Beispiel nicht, um ihr Revier zu verteidigen, denn die Tiere brüten in Kolonien. Aber der Gesang ist ein Balzritual. Und man konnte beobachten: Die Männchen adressieren ihren Gesang an ein bestimmtes Weibchen. Ist das Weibchen weiter weg, singen sie lauter. Je näher das Tier dran ist, desto leiser wird der Gesang. Sie regulieren die Lautstärke ihres Gesangs in Abhängigkeit von der Distanz über die die kommunizieren. Genauso wie Menschen es auch mit der Sprache machen."

Deutlich kleinere Kommunikationsdistanzen

Brumm und sein Team stellten ein mathematisches Modell auf, das zeigt, über welche Distanzen die Vögel miteinander kommunizieren können. Eine Amsel, die im Wald singt, wird ungefähr über 170 Meter Distanz kommunizieren können. Das heißt: Innerhalb der 170 Meter wird eine andere Amsel diesen Gesang erkennen. Bei der Kohlmeise sind es im Wald ungefähr 120 Meter. Brumm: "Unter den Bedingungen von sehr lautem Stadtlärm, also 60 Dezibel, erreicht die Amsel nur noch eine Kommunikationsdistanz von ungefähr 35 Metern, die Kohlmeise 60 Metern. Singen die Tiere wiederum lauter, kann die Amsel die Distanz auf 50 Meter ausdehnen, die Kohlmeise auf ungefähr 90 Meter."

Bei durchschnittlichem Lärm käme die Amsel ungefähr auf den gleichen Wert wie im Wald, wenn sie lauter singt, die Kohlmeise würde sogar noch weitere Distanzen schaffen. "Das heißt, die Vögel können die Defizite in der Kommunikation durch den Lärm dadurch ausgleichen, dass sie lauter singen."

Gleichzeitig singen die Vögel nicht nur lauter, sondern auch hochfrequenter. Diese Hochfrequenz wiederum wirkt sich positiv auf die Kommunikationsdistanz aus. Die Forscher sind jedoch skeptisch, ob die Frequenz tatsächlich eine Folge des Lärms ist. "Sie kann auch ein Nebeneffekt der Lautstärke sein. Wenn ich schreie, habe ich auch eine höhere Stimme, weil Lautstärke und Frequenz aneinander gekoppelt sind. Das kann bei Vögeln ähnlich sein", erklärt Brumm.

Stadt- und Landvögel verstehen sich aber noch

Nicht nur die Lautstärke und Tonhöhe habe sich bei Stadtvögeln verändert. Meisen in Städten singen zum Beispiel kürzere Strophen. Andere Arten, wie beispielsweise Stare, erweitern ihr Gesangsrepertoire durch Laute aus der Umwelt und kopieren andere Geräusche. "Dazu haben sie mehr Möglichkeiten in der Stadt, weil sie mehr Schallquellen ausgesetzt sind, zum Beispiel Alarmanlagen, Weckerpiepen oder Handyklingel", sagt Brumm. Außerdem fangen Stadtvögel früher an zu singen als ihre Kollegen im Wald - das allerdings liegt nicht nur am Lärm, sondern auch am künstlichen Licht.

Dass sich der Gesang der Stadt- und Landvögel jedoch so sehr verändert, dass daraus neue Arten entstehen, die sich nicht mehr verstehen, dafür gibt es laut Brumm keine Hinweise. Eine Studie, bei der Stadtvögeln der Gesang von Landvögeln und umgekehrt vorgespielt wurde, zeigt: "Die Tiere reagieren tendenziell stärker auf den Gesang ihrer eigenen Umwelt, das heißt aber nicht, dass sie ihre Art nicht mehr erkennen", sagt Brumm. "Die eine Meise erkennt die andere als Meise, sie reagieren nur nicht mehr ganz so stark darauf."


Maike Freund ist freie Journalistin und arbeitet in Dortmund.