TV-Tipp des Tages: "Sommer '04" (3Sat)
Eine "Patchwork"-Familie macht Segelurlaub an der Ostsee: Die Tage sind ereignislos, die Nächte auch; bis sich die zwölfjährige Livia in Bill, einen 38-jährigen Amerikaner, verliebt.
19.07.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Sommer '04", 20. Juli, 20.15 Uhr auf 3Sat

Es gibt diese Geschichten, die nur funktionieren, wenn man den Schluss kennt. Nicht, weil er vorweggenommen wird, sondern weil er die gesamte Handlung in Frage stellt. Eigentlich müsste man sich den Film gleich noch mal anschauen, um nach Zeichen Ausschau zu halten, die man zuvor übersehen hat, nach versteckten Hinweisen, die das Ende andeuten könnten.

Die Suche wäre wohl vergebens, weshalb der überraschende Schluss dieser erneuten Zusammenarbeit von Regisseur Stefan Krohmer und Autor Daniel Nocke auch ein wenig wie aus dem Hut gezaubert wird; ein deus ex machina aus Papier gewissermaßen, weil der im Epilog verlesene Brief den Sommerurlaub an der Schlei in komplett anderem Licht erscheinen lässt. Im Nachhinein wirkt die Handlung auf diese Weise erst recht wie eine Versuchsanordnung.

Mit Martina Gedeck, Svea Lohde und Robert Seeliger

Andererseits ist genau dies das Strukturprinzip der Filme von Krohmer und Nocke, die für die intensiv gespielten TV-Dramen "Familienkreise" und „Ende der Saison“ jeweils mit einem Adolf Grimme Preis mit Gold ausgezeichnet worden sind. "Sommer '04" variiert allerdings das Experiment aus dem ersten gemeinsamen Kinofilm, "Sie haben Knut". Dort wurde eine Gruppe junger Wintersporturlauber mit einem Ereignis konfrontiert, dass das gesamte Gefüge in Frage stellte (ihr Freund Knut ist bei einer Demonstration angeblich verhaftet worden). Diesmal macht eine "Patchwork"-Familie Segelurlaub an der Ostsee: eine Mutter, Miriam (Martina Gedeck), ihr halbwüchsiger Sohn Nils (Lucas Kotaranin), dessen frühreife Freundin Livia (Svea Lohde) und schließlich Miriams Lebensgefährte André (Peter Davor). Die Tage sind ereignislos, die Nächte auch; bis sich Livia in Bill (Robert Seeliger) verliebt, einen 38-jährigen Amerikaner, der sich in der Nähe ein Haus gekauft hat und von dem forschen Mädchen sichtlich beeindruckt ist. Aus Verantwortung für die Zwölfjährige stellt Miriam den Nachbarn zur Rede, erliegt selbst seinem Charme und konkurriert fortan mit Livia um Bills Gunst.

Vordergründig passiert nicht viel in diesem Film; dafür werden um so mehr Worte gewechselt. Auch das ist ein Markenzeichen von Krohmer und Nocke: Bei all ihrer Beredtheit schleichen die Figuren trotzdem immer um den heißen Brei herum. Weil die Personen stets anders handeln, als sie reden, ist man entsprechend überrascht, als die scheinbar zufriedene Miriam dem Amerikaner plötzlich an die Wäsche geht. Aus ähnlich heiterem Himmel schlägt das Schicksal zu, als Livia beim gemeinsamen Segeltörn mit Miriam so unglücklich von einem Mast am Kopf getroffen wird, dass sie kurz drauf an den Folgen dieser Verletzung stirbt. Makabererweise macht sie damit den Weg frei: Miriam verlässt André und zieht zu Bill.

Wie üblich bei den Filmen Krohmers ist die Kamera (ausnahmsweise nicht Gunnar Fuß, sondern Patrick Orth) ganz nah an den Figuren, was sowohl den Eindruck der Versuchsanordnung wie auch die Authentizität enorm verstärkt. Mitunter wirken die Dialoge zudem wie improvisiert. Natürlich funktioniert das nur mit einem entsprechenden Ensemble, das Krohmer ausgezeichnet zusammengestellt hat. Gerade Svea Lohde hat für ihr junges Alter eine enorme Präsenz.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).