Allah auch für Waria: Transsexuelle in Indonesien
In Indonesien leben so viele Muslime wie sonst in keinem anderen Land auf der Welt. Der Islam dort ist so tolerant, dass es sogar eine Koranschule für Transsexuelle gibt, auch wenn die Teilnehmerinnen die extremistischen Muslime fürchten.
14.07.2010
Von Michael Lenz

Mariani ist eine gläubige Muslimin. Aber wie die Transsexuelle nicht ihr Leben lang eine Frau war, so  gehörte die 53-jährige auch nicht immer dem Islam an. Die Mutter der neun Jahre alten Adoptivtochter Ariani war in eine katholische Familie in Yogyakarta in Zentraljava (Indonesien) geboren worden. Aber selbst ihre Arbeit im Teenageralter in der Küche eines katholischen Klosters konnte sie nicht von einem Religionswechsel abhalten. "Ich habe mich immer zum Islam hingezogen gefühlt", gesteht die für einen Javanesen ungewöhnlich große und kräftig gebaute Mariani mit einem sanften Lächeln.

Ihre große Liebe zu Allah machte Mariani über die Grenzen des Sultanats Yogyakarta hinaus berühmt, als sie vor vier Jahren eine "Pesantren", so heißen in Indonesien die Islam-Schulen, für Transsexuelle ins Leben rief. "Waria" nennt man sie in Indonesien, eine Mischung aus den Wörtern für Frau, "wanita", und Mann, "pria".

Die Islamschule im Hinterzimmer des Schönheitssalons

Yogyakarta ist ein Zentrum der traditionellen javanischen Kultur und wurde 2006 von einem Erdbeben heimgesucht: Mehr als 6.000 Menschen kamen durch das Erdbeben ums Leben und Zehntausende fanden ihre Häuser schwer beschädigt oder zerstört.

Ausgerechnet durch das tragische Erdbeben erhielt Mariani die göttliche Eingebung zur Gründung der Islamschule für Ihresgleichen, die in den Gebetshäusern des Mainstreamislam nicht gerne gesehen sind. "Auch viele Transsexuelle waren von dem Erdbeben betroffen", erzählt Mariani. "Wir haben für sie Spenden gesammelt und eine Gebetsveranstaltung organisiert. Die war sehr gut besucht und mir wurde klar, dass viele von uns gläubige Muslime sind, deren religiöse Bedürfnisse aber von den traditionellen Pesantren nicht erfüllt werden."

Jeden Sonntag um 18 Uhr versammeln sich transsexuelle Frauen und ein paar schwule Männer in dem in knalligem Orange gestrichenen Hinterzimmer von Marianis Schönheitssalon, hinter einer Hühnerbraterei unweit des Sultanspalasts von Yogyakarta. Die Frauen sind vorschriftsmäßig islamisch gekleidet, komplett mit Hijab und weißen Gebetskleidern. Ein großes Schild mit der Aufschrift "Pesantren Khusus Waria" – "Pesanten nur für Waria" – weist den Weg. Die Nachbarn, allesamt Handwerker, Ladenbesitzer, Betreiber kleiner Restaurants, stören sich nicht an der ungewöhnlichen Islamschule. "Alle unterstützen mich und meine Pesantren", sagt Mariani.

"In den Augen Allahs sind wir alle gleich"

Gut 15 Frauen und Männer sind an diesem Sonntag gekommen. Andächtig hören sie dem Ustad, einem Islamgelehrten zu. Abdul Muiz schreibt ein paar Worte auf eine Tafel, spricht dazu, verbindet die geschriebenen Worte mit ein paar ein Pfeilen. Nach nur 20 Minuten ist der Korankurs auch schon vorbei. Dann wird gebetet. Ganz traditionell stehen die Männer vorne, auf jeden Fall solche, die keine Frauenkleider tragen, während die transsexuellen Frauen in weißer Gebetstracht in der zweiten Reihe knieen.

"Heute habe ich über die Bedeutung der Dankbarkeit gesprochen", erklärt Abdul Muiz später. Der 33-Jährige in dem schönen javanischen Batikhemd will den Transsexuellen Gott näherbringen, ohne aber von dem missionarischen Eifer getrieben zu sein, die Männer und Frauen auf einen anderen sexuellen Orientierungsweg zu bringen. "Die Geschlechter haben keine Bedeutung. Im Auge Allahs sind wir alle gleich", sagt Abdul Muiz mit Überzeugung. Diese Botschaft der Toleranz, Akzeptanz und Gleichheit verkünde er auch, wenn er als Imam in einer Moschee predige, versichert der noch unverheiratete junge Mann.

Hardline-Islam gewinnt stetig an Einfluss

Abdul Muiz ist ein gutes Beispiel für die moderaten indonesischen Muslime und damit ein Vertreter der Mehrheit der Muslime Indonesiens, das weltweit die Nation mit dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil ist. Die Schlagzeilen aber bestimmen die Vertreter eines konservativen Islam, die lieber heute als morgen aus dem säkularen, demokratischen Indonesien einen Gottesstaat auf Grundlage von Koran und Scharia machen möchten. Dieser Hardline-Islam hat bereits einen wachsenden Einfluss auf die Politik des Landes, obwohl die Indonesier bei den Wahlen im vergangenen Jahr eindeutig säkularen Parteien den Vorzug gaben und allen islamischen Parteien zusammen einen beachtlichen Stimmenverlust bescherten.

Die militanteste islamische Organisation ist die "Islamische Verteidigungsfront" (FPI), die mit brutaler Gewalt gegen alles vorgeht, was ihr "unislamisch" scheint. Das können Bars im westlichen Stil sein, "abtrünnige" islamische Lehren oder auch christliche Kirchen. Eine der häufigsten Angriffsziele der "Islamischen Verteidigungsfront", deren Gewalt und Selbstjustiz Rückendeckung aus Teilen der Polizei, der Armee, der Politik und der großen islamischen Massenorganisationen genießt, sind Schwule, Lesben und Transsexuelle.

Das Alltagsleben ist oft geprägt von Diskriminierung

Mariani (Bild links, Foto: Michael Lenz) sagt, sie fürchte die "islamische Verteidigungsfront" nicht und habe auch noch keine Drohungen erhalten. Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall kann es gefährlich sein, die FPI zu kritisieren. Kritik an der Organisation wird von ihr als Kritik am Islam gleichgesetzt, ein Totschlagargument, das weit über den harten Kern der FPI-Anhänger hinaus Widerhall findet. Etwas über 30.000 Indonesier haben eine Petition im Internet gegen die FPI unterschrieben.

Es könnten sehr viele mehr sein, aber viele trauen sich nicht. So wie Tom, ein schwuler Christ aus Yogyakarta. "Ich würde gerne unterschreiben", sagt der 32-jährige Werbefachmann, fügt jedoch hinzu: "Aber dann haben sie meinen Namen und ich habe Angst, dass sie mich 'besuchen'."

Die sonntäglichen Versammlungen in Marianis Pesantren sind ebensosehr ein soziales wie religiöses Ereignis. Nach Sonntagsschule und Gebet beginnt der gemütliche Teil. Tee wird serviert und ein Abendessen aus Reis und Tofusuppe. Die Damen und Herren plaudern munter durcheinander, erzählen sich den neuesten Klatsch und Tratsch, Schminktipps werden ausgetauscht und Erfahrungen aus dem Alltagsleben, das für Warias im konservativen Indonesien oft aus Diskriminierung, Spott und Ausgrenzung besteht.

Aus dem Dorf vertrieben, weil sie anders war

Nicht jede Waria hat das Glück, wie Sindha als Designerin von Silberschmuck ihr Geld zu verdienen, oder wie Nur als Köchin in einem privaten Haushalt. Transsexuellen bleibt meist nur ein Leben als Nachtclubsängerin oder Tänzerin. Die ganz armen unter Yogyakartas Warias verdienen sich tagsüber ein paar Rupien als Musikantinnen auf den notorisch verstopften, von Abgasen eingenebelten Straßen der Stadt und nachts als Prostituierte.

Nur ist ein wenig schüchtern. Sie ist erst vor kurzem aus dem Dorf nach Yogyakarta gekommen. "Sie haben mich vertrieben", sagt sie leise. "Sie mochten mich nicht, weil ich anders bin." Mit der Vertreibung hat die 40-jährige ihr Einkommen verloren. In ihrem Dorf hatte sie einen kleinen Warung, einen der in Indonesien überall zu findenden Essensstände auf zwei Rädern. In der Pesantren ist sie an diesem Abend zum ersten Mal. Nurs Schüchternheit verfliegt schnell. Die anderen Mädels haben sie mit offenen Armen empfangen. Sie plaudern und kichern, als wären sie seit Jahren die besten Freundinnen. Es ist eine Oase der Sicherheit für die Waria in Yogyakarta.


Michael Lenz ist Südostasien-Korrespondent und schreibt gelegentlich für evangelisch.de.