Herr Ruch, die Umstände des Massakers an 8372 Bosniern unter Führung des serbischen Generals Ratko Mladi? sind weitgehend bekannt. Mladi? muss sich derzeit vor dem UN-Kriegsverbrecher Tribunal in Den Haagverantworten. Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Aktion?
Philipp Ruch: Die Vorbereitung und der Ablauf sind heute zwar bekannt, aber das Bewusstsein für das mörderische Ausmaß und die klare Benennung aller Verantwortlichen sind nach wie vor nicht ausreichend. Seit 2009 hat das EU-Parlament den 11. Juli zum offiziellen Gedenktag erklärt, aber außer in Deutschland und Holland scheint das niemanden zu interessieren. Wir haben im letzten Jahr in Berlin bereits mit Schauspielern die verhängnisvolle Sitzung des UN-Krisenstabs nachgespielt, infolge dessen das Massaker geschehen konnte. Zum 15. Gedenktag war uns, dem Zentrum für politische Schönheit, daran gelegen, etwas mehr Aufmerksamkeit zu wecken.
Wie ist die Idee entstanden, 16.744 Schuhe zu sammeln?
Ruch: Ursprünglich hatten wir vor, stellvertretend für die Opfer 8.372 Menschen in einem Raum zu versammeln. Leider ist es in Deutschland unmöglich, so viele Menschen für dieses wichtige Vorhaben zu motivieren. Schuhe spielen ja in der islamischen Welt eine große Rolle, denken Sie nur an den Schuhwurf auf G. W. Bush oder das obligatorische Ablegen der Schuhe in einer Moschee. Das Sammelprojekt stieß sowohl bei den Angehörigen der Opfer als auch bei unserem Partner, der Gesellschaft für bedrohte Völker, auf großen Anklang. Gemeinsam haben wir dann in Bosnien und der bosnischen Diaspora in Österreich, der Schweiz und Deutschland Menschen gebeten, uns ihre Schuhe zu überlassen - darunter viele bekannte Persönlichkeiten aus Kirche, Kultur, Politik und Sport. Das ganze war ein riesiger Erfolg. Ganz Bosnien nimmt großen Anteil, die Nachrichten sind voll von unserem Projekt.
Was genau haben Sie mit den Schuhen vor?
Ruch: Die Schuhe werden zunächst mit zwei LKW nach Berlin transportiert, um sie am Samstag vor dem Brandenburger Tor auszustellen. Derzeit sammeln wir noch Spenden, um die Schuhe im September nach Den Haag zu bringen – wir wollen Karadzic die Dimension seiner eigenen Tat bewusst machen. Einer der Hauptverantwortlichen bei den UN, der französische General Bernard Janvier, der sich als einziger weigerte, den rettenden Einsatzbefehl für die Luftwaffe zu unterzeichnen, lebt heute als Pensionär in Südfrankreich. Ich bin sicher, dass dieser Herr auch einen Vorgarten hat... Letztlich ist unser Ziel, am zentralen Opferfriedhof in Bosnien eine "Säule der Schande" zu errichten, so wie es sie auch in Hong Kong, Rom oder Brasilia gibt: die Schuhe sollen in zwei riesige Stahlbehälter gefüllt werden, die die Form der Buchstaben "U" und "N" haben.
Was genau werfen sie den Vereinten Nationen denn vor?
Ruch: Die serbische Armee hatte die 40.000 islamischen Einwohner von Srebrenica in Bosnien-Herzegowina bereits seit drei Jahren belagert. Die UN schickte daraufhin Truppen an diesen Ort, um Schlimmeres zu verhindern. Aber als ab dem 6. Juli 1995 die serbischen Truppen unter General Ratko Mladi? die 40.000 Zivilisten in der so genannte Schutzzone angriffen, geschah: nichts. Damit ließ die UN den schlimmsten Völkermord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Auch wenn das UN-Tribunal die Vorgänge in Srebrenica schon lange als Völkermord einstuft, weigert sich die UN bis heute strikt dagegen, die eigene Verantwortung für dieses furchtbare Massaker anzuerkennen. Zwei Klagen der 6.000 Angehörigen der Opfer gegen die UN wurden aus Gründen abgewiesen, die jeder Beschreibung spotten.
Das Gedenken an Völkermord mittels der Schuhe der Opfer kennt man heute vor allem aus den ehemaligen KZs, zum Beispiel in Auschwitz. Wollten sie bewusst eine Parallele aufzeigen?
Ruch: Nein, das war keine Absicht. In Massengräbern finden heute sie nur zwei Dinge: Knochenreste und die Schuhe der Opfer. Viele bosnische Mütter haben uns die Schuhe ihrer verstorbenen Angehörigen geschickt. Aber für mich gab es einen ganz anderen Grund, Schuhe für Srebrenica als Symbol zu nehmen. Wenn Sie einen herrenlosen Schuh auf der Strasse sehen, strahlt der eine Verlassenheit aus, die das doppelt, was eine ganze Nation drei Jahre lang während eines schrecklichen Krieges durchmachen musste. Das darf nicht vergessen werden. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Der Bosnienkrieg ist das moralische Grab Europas.
Der 29-Jährige Berliner Philipp Ruch ist Aktivist in der Künstlergruppe "Zentrum für politische Schönheit". Er studierte von 2003–2009 bei Prof. Herfried Münkler und Prof. Volker Gerhardt politische Theorie und Philosophie, daneben Geschichte, Kulturwissenschaft und Germanistik. Er arbeitete im Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut und wurde von der Zeit unter die "100 Studenten, von denen wir noch hören werden" gewählt.
Cornelius Wüllenkemper ist freier Journalist in Berlin.