"Tankstellen für die Seele" ziehen eine Million Besucher an
Es gibt sie an jeder größeren Verkehsstrecke, und der Sommer ist ihre Zeit: Autobahnkirchen. Wenn die Menschen in den Urlaub fahren, tanken sie hier die Seele auf.
09.07.2010
Von Thomas Krüger

"Lieber Gott, danke, dass du meine Eltern beschützt. Fahr bitte mit meinem Vater immer im Auto mit", schrieb ein Junge vor wenigen Tagen in das Anliegenbuch der evangelischen Autobahnkirche im nordrhein-westfälischen Vlotho-Exter. Philipp gehört zu der rund eine Million Menschen, die jedes Jahr in die Kirchen und Kapellen an deutschen Autobahnen einkehren: Sie wollen zur Ruhe kommen, rasten, nachdenken, ein Gebet sprechen, eine Kerze anzünden. Am Sonntag machen die Gotteshäuser an den Schnellstraßen mit dem bundesweiten "Tag der Autobahnkirchen" auf sich aufmerksam.

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"Immer wieder bringen die Besucher den Dank für eine sichere Reise und die Bitte um Schutz für liebe Menschen zum Ausdruck", sagt Pastor Ralf Steiner aus dem ostwestfälischen Exter. Seine schmucke Dorfkirche unweit der A 2 wird nicht nur von den Einheimischen, sondern jährlich auch von 32.000 automobilen Reisenden aufgesucht. Er findet es "schön, zwei Gemeinden zu haben und nächsten Sonntag noch eine dritte, die Fernsehgemeinde". Denn dann sendet das ZDF seinen TV-Gottesdienst erstmals aus einer evangelischen Autobahnkirche.

Die Sommerferien sind Hochsaison

Für Pastor Steiner und seine Kolleginnen und Kollegen in den 37 deutschen Autobahnkirchen und -kapellen beginnt mit den Sommerferien die Hochsaison. In Vlotho-Exter verdoppelt sich die Besucherzahl von täglich 50 Gästen auf 100, dazu kommen drei bis fünf Reisebusse pro Woche. Für Gruppen, die sich anmelden, hält Steiner Andachten und führt durch die in ihren Ursprüngen aus dem 17. Jahrhundert stammende weiß getünchte Kirche.

Die ersten Besucher steuern das Gotteshaus schon morgens um sieben an. Männer in Schlips und Kragen entsteigen ihren schweren Limousinen: Geschäftsleute, die einen harten Tag vor sich haben und "hier noch mal zehn Minuten auftanken wollen", so Steiner.

Überhaupt sind Männer unter den Gästen der Autobahnkirchen in der Mehrheit, fanden Forscher der Katholischen Fachhochschule Freiburg heraus. Zwei Drittel der Kirchenbesucher sind über 50 Jahre alt. Den größten Anteil der Gäste stellen Urlauber, gefolgt von Fahrern, die zu Verwandten oder Freunden unterwegs sind, und beruflich Reisenden. Fast alle gehören einer christlichen Kirche an - überwiegend der katholischen - allerdings halten zwei von fünfen eher Distanz zu Kirche und Gemeinde.

Je zur Hälfte haben die Besucher den Stopp an der Kirche geplant oder fahren spontan von der Autobahn ab, nachdem sie eins der Hinweisschilder gesehen haben. Etliche werden dann zu "Stammkunden", so wie das Ehepaar aus Soest, das auf dem Rückweg von Rügen stets Station in Exter macht: "Danke für diesen Kraftort Autobahnkirche", schrieben sie in das Anliegenbuch.

Eine Abfahrt oder eine Raststätte muss immer dabei sein

Solche Kraftorte sind offenbar gefragt, denn ständig entstehen neue: "Binnen eines Jahres sind Autobahnkirchen und -kapellen in Hamm-Rhynern, Kassel, Wittlich und Bochum hinzugekommen", sagt Birgit Krause von der Akademie Bruderhilfe/Familienfürsorge (Kassel). Das kirchliche Versicherungsunternehmen vernetzt seit rund 20 Jahren die früher isoliert voneinander arbeitenden Projekte.

Wie Krause berichtet, sind es stets örtliche Initiativen aus Gemeinden oder von Privatleuten, die sich dafür einsetzen, eine Kapelle zu bauen oder ein bestehendes Gotteshaus für die zusätzliche Funktion als Autobahnkirche zu öffnen. Die evangelischen Landeskirchen oder katholischen Diözesen müssen den Vorhaben aber zustimmen, ebenso das Bundesverkehrsministerium.

Voraussetzung für die Bestimmung als Autobahnkirche ist die direkte Anbindung an eine Abfahrt oder Raststätte. Mehr als einen Kilometer entfernt von der Schnellstraße darf die Kirche nicht liegen, hat die ökumenische Konferenz der Autobahnkirchenpfarrer festgelegt. Der Gründungs-Boom geht weiter: In Leutkirch hat die Konferenz jüngst einem neuen Projekt im bayerischen Trockau an der Autobahn Berlin-München zugestimmt. Im Siegerland plant ein Trägerverein für September die Grundsteinlegung für eine Kirche auf dem Autohof Wilnsdorf an der A 45.

Die Gesellschaft ist auf Achse, die Seele will auch mal tanken

Die Besucherzahl in den Autobahnkirchen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Für Ralf Steiner ist das eine Folge des allgemein steigenden Verkehrsaufkommens und des Zwangs zu mehr Mobilität im Berufsleben. Die mobile Gesellschaft sei "immer auf Achse", ohne Rast und Ruhe. "Jedes Auto muss regelmäßig zur Tankstelle, aber was ist mit unserer Seele?", fragt der Pastor. Er möchte die Gäste der Autobahnkirche nicht bloß "fitmachen für den ganz normalen Wahnsinn des Alltags".

Wer in Exter Rast macht, soll verändert - und sicherer - weiter fahren. "Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will Euch erquicken", verkündet der Bibelvers am Altarbogen der alten Dorfkirche. Darüber hat Steiner am Sonntag im Fernsehgottesdienst gepredigt.

epd