"Zu viele Bücher, die ich lesen möchte..." heißt eine der beliebteren StudiVZ-Gruppen. Rund 65.000 Mitglieder des sozialen Netzwerks outen sich dort als Leseratten, denen die Zeit nicht reicht, ihre Lust auf Gedrucktes zu stillen. Nicht wenig, geht es hier doch um eine für das Lesen oft schon verloren geglaubte Generation. Zum Vergleich: Die vielleicht berühmteste aller Gruppen mit dem Titel "Vegetarier essen meinem Essen das Essen weg!" bringt es auf 200.000 Mitglieder - von denen die meisten wohl vor allem um des Gags willen beigetreten sind, erscheinen die Gruppen-Mitgliedschaften doch prominent auf der Profilseite, dem Aushängeschild der eigenen Originalität und Coolness.
Wenn es nun aber ein lesewilliges Publikum in den sozialen Netzwerken gibt, das sich dort womöglich regelmäßig tummelt, während die gefühlte Muse zum Offline-Lesen fehlt: Was läge dann näher, als dass sich die Literatur auf den Weg ins Web 2.0 macht? Das scheint sich zumindest "tg" - so das Akronym des in Ungarn geborenen, österreichischen Autors Teglasy Gergely - gedacht zu haben. Er startet am 1. Juli "Zwirbler", den nach eigenen Angaben weltweit "ersten gehaltvollen Fortsetzungsroman auf Facebook" (http://www.facebook.com/Zwirbler.Roman).
Ein Roman auf Facebook? Eigentlich genau der richtige Ansatz, findet auch Florian Hartling. "Man sollte denken, dass die neuen Dienste im Internet wie wild auch für Literaturproduktion genutzt werden", sagte der Medienwissenschaftler von der Universität Halle. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Zwar gebe es hier und da Literatur- und Kunstprojekte etwa in Blogs und in "Second Life", erklärt Hartling, der die digitale Literatur zu seinem Spezialgebiet gemacht hat. Insgesamt sei es in der Netzliteratur aber seit dem Platzen der Dotcom-Blase eher ruhig geworden. Ein "Zwirbler" vergleichbares Projekt ist daher auch Hartling nicht bekannt.
Zusammenfassung in Hörbuchform
Die Idee von "tg" entspricht dabei dem Web 2.0, ohne dass er als Autor die Kontrolle aus der Hand geben würde: Die Geschichte soll sich in einzelnen Statusmeldungen entspinnen, die jeder Facebook-Nutzer entweder auf der Zwirbler-Seite verfolgen oder aber ganz leicht abonnieren kann: Einmal auf "Gefällt mir" gedrückt, schon kann man bei Kontrollblick auf seine Pinnwand, egal ob per Computer, Handy oder iPad, auf das nächste Posting hoffen. Alternativ soll es wöchentliche Zusammenfassungen in Hörbuchform geben, als Podcast unter http://zwirbler.wordpress.com/.
Ein Roman-to-go also gewissermaßen, der trotzdem, so verspricht es jedenfalls "tg", "spannend, absurd, tiefgründig, skurril und manchmal auch schmutzig" werden soll, geeignet "nur für Jugendliche ab 17 und Erwachsene". Langeweile wäre natürlich verpönt im Social Web, ebenso verbieten sich zeitfressende Textungetüme: maximal 420 Zeichen lang darf eine Statusmeldung auf Facebook sein - und würden es gar zu viele davon pro Tag, würden die Nutzer das wohl als Spam empfinden und schnell wieder abbestellen.
Knackige Sprache
Das eigentlich Besondere an "Zwirbler" verspricht allerdings gar nicht seine häppchenweise Darreichung in voraussichtlich netztypisch knackiger Sprache zu werden, sondern die Interaktivität. Der Nutzer muss kein passiver Konsument bleiben, der bestenfalls in der virtuellen Community seinen Senf zur Geschichte abgibt - wie es etwa für Nutzer des Kurzmeldungsdienstes Twitter während mancher Fernsehsendungen gang und gäbe ist.
Nein, bei "Zwirbler" dürfen die Leser den Gang der Erzählung beeinflussen, verspricht der Autor: "Die Kommentare der Leser werden in die Geschichte verarbeitet. Schonungslos, direkt und ohne Kompromisse." Wie das genau aussehen wird, will tg noch nicht preisgeben, fragt in seiner Ankündigung sogar ganz provokant: "Sie schreiben also mit. Aber können Sie den Lauf der Geschichte auch verändern?" Aber im Interview wird dann doch deutlich, dass die Nutzer Länge und Fortgang des Romans zu einem guten Teil mitbestimmen können: "Es gibt den Anfang eines roten Fadens, der Rest wird von den Usern beeinflusst."
Keine "Twitter-Romane"
Somit entsteht hier Literatur zwar nicht gemäß der reinsten Form der Web 2.0-Lehre als von der Masse der Nutzer generierter Inhalt ("user generated content"), aber doch als Nutzer-gesteuerter Content. Damit hebt "Zwirbler" sich ab von den ersten "Twitter-Romanen" wie "The French Revolution" von Matt Stewart (http://twitter.com/thefrenchrev) oder "Im Schatten des Flügelschlags" des Hannoveraners Marcel Magis (http://twitter.com/fluegelschlag): Dies sind gewöhnliche, für das Medium Buch geschriebene Texte - Magis' Rohfassung etwa entstand 2001/2002, lange bevor Twitter erfunden wurde; Stewarts Roman erscheint demnächst als 320-seitiges Paperback. Lediglich die Veröffentlichungsweise ist ungewöhnlich: Zerlegt in Sätze oder gar Satzbruchstücke von maximal 160 Zeichen, tröpfeln die Romane über Twitter dahin. Magis verschickt zehn Updates täglich, im Abstand von einer Stunde - gerade einmal 177 Follower bringen die Geduld auf, das mitanzusehen.
Demgegenüber nehmen sich die derzeit etwa 2.300 Fans von "Zwirbler" schon ganz stattlich aus - trotzdem findet Florian Hartling diese Zahl für Facebook-Maßstäbe ziemlich niedrig. Zum Vergleich: Innerhalb des letzten Monats waren in Deutschland 9,5 Millionen und in Österreich 2 Millionen Nutzer auf Facebook aktiv (Juni-Zahlen von facebookmarketing.de). Insgesamt gibt sich der Experte eher pessimistisch: "Meine Erfahrung sagt, dass solche Projekte wenig Erfolg haben", sagt Hartling.
Gleichberechtigte Mitwirkung
Allerdings leide Netzliteratur auch häufig darunter, sperrig zu sein: "Vergleichbar etwa mit Schönberg'scher Zwölftonmusik gibt es kaum ein Zielpublikum und praktisch kein Geld zu verdienen." Oft habe auch die gleichberechtigte Mitwirkung vieler Autoren über das Netz, die dann oft gegeneinander arbeiten, aber dafür wenig Ahnung vom Schreiben haben, zu letztlich unterirdischer Qualität geführt. Insofern bietet "Zwirbler" also einen durchaus vielversprechenden Ansatz - wenn "tg" es denn schafft, seine Versprechungen einzulösen. Hartling schließt deshalb auch nicht aus, dass es "Zwirbler" gelingen könnte, auf der derzeitigen Facebook-Welle zum Erfolg zu reiten: "Ich bin gespannt."
Etwas optimistischer ist der Schriftsteller, Philosoph und Informationswissenschaftler Oliver Bendel. Obwohl er Facebook-Gegner ist und selbst eher auf Handy-Romane setzt, begrüßt er den Facebook-Roman als einen weiteren Schritt in die richtige Richtung, hin zu einer "Literatur in Bewegung", die auch Nicht-Leser zu Lesern machen könne: "In Social Networks prahlen ja viele Benutzer damit, gar nicht zu lesen; wer weiß, vielleicht ändert sich das bald." Vor allem aber werde die Literatur unweigerlich nach und nach ihr formales Korsett, die Buchdeckel, abstreifen, so wie auch die Bildende Kunst mit Installationen und Aktionskunst neue Formen entwickelt habe: "'Reine Literatur' wird es immer weniger geben, immer mehr Mischformen, Interaktionen zwischen realem und virtuellem Raum", sagt Bendel. "Alles ist möglich, alles ist erlaubt - die Hauptsache ist doch, dass wir gute Literatur haben."
Ulrich Pontes arbeitet als freier Journalist und interessiert sich dabei vor allem für die Auswirkungen von Wissenschaft und Technik auf Leben und Gesellschaft.