Kirchen alt und neu: Von der Gotik zum Glashaus
Gott wird bei den Menschen wohnen, heißt es in der Offenbarung des Johannes. Die Wohnungen, in denen sich die Menschen Gott besonders nahe fühlen, sehen höchst unterschiedlich aus. Die mittelalterliche Marienkirche in Ortenberg und die 1997 eingeweihte Emmauskirche in Eppstein-Bremthal könnten auf den ersten Blick nicht gegensätzlicher sein – und haben doch überraschend viele Gemeinsamkeiten.
01.07.2010
Von Bernd Buchner (Text) und Friederike Schaab (Fotos)

Hier nimmt der Besucher einen tiefen Atemzug Geschichte, dort erscheint vor seinen Augen das Antlitz der Moderne. Hier steht ein Gotteshaus, das den Glauben in gotisch dicken Stein packt, dort ein Gebäude, das vom christlichen Gedanken ätherisch durchströmt zu sein scheint. Hier altevangelisches Stammland, dort protestantische Diaspora. Fast ein Treppenwitz der Architektur, dass beide Kirchen ein und demselben Zweck dienen – den Menschen von Jesus Christus zu berichten und seine Botschaft in die Welt zu bringen.

Hier, das ist die Marienkirche von Ortenberg, einem schmucken Städtchen in der Wetterau, zwischen Friedberg und Nidda. Wehrhaft, fast ein wenig unnahbar wirkt das auf einer beträchtlichen Anhöhe gelegene Gotteshaus, das Anfang des 14. Jahrhunderts errichtet wurde. Den mächtigen gotischen Turm vollendete man 1368. "Ganz oben ist noch Holz der ersten Dachbestuhlung", berichtet Pfarrer Johannes Schatz. Er öffnet das Rundbogenportal, das wohl noch vom romanischen Vorgängerbau stammt, und betritt die dreischiffige Hallenkirche. Sie wirkt innen überraschend handlich, wie die Puppenstubenausgabe einer großen gotischen Kathedrale. Die linke Seitenwand ist mit Epitaphen vollgepflastert, Grabmalen ehemaliger Pfarrer und Patronatsherren. Das wirkt wie eine Beschwernis - doch fällt der Blick nach vorne und an die Decke, stellt sich rasch ein lichtes, leichtes Gefühl ein.

Von außen erinnert wenig an eine Kirche

Dort, das ist die Emmauskirche in Eppstein-Bremthal, im Main-Taunus-Kreis nicht weit von Wiesbaden. Von außen erinnert wenig an ein Gotteshaus. Ein fast rundum verglastes Gebäude mit Holzdach lehnt sich an einen Hügel an. Am First hängt ein schmales Transparent mit der Aufschrift "Glocken für Emmaus". Auf der anderen, höher gelegenen Seite ist der Eingang zum Kirchenraum, der sozusagen im ersten Stock liegt, von Licht durchflutet. Statt auf Gemälde oder andere Kunstgegenstände blickt der Betrachter auf Rapsfelder und Apfelbäume, durch die Glasfront wandert das Auge hinüber nach Niederjosbach, Eppenhain und zum Atzelberg.

1997 ist das Gotteshaus geweiht worden. Geplant hat es Jutta Bechthold-Schlosser, Professorin für Baukonstruktionslehre an der Fachhochschule Erfurt. Als Leitwort wählte sie Sacharja 2,8: "Jerusalem soll ohne Mauern bewohnt werden". Die Architektur sollte nicht eine abstrakte Kirchlichkeit abbilden, sondern ein Spiegel des alltäglichen Gemeindelebens sein, sagt Pfarrer Moritz Mittag: "Die Kirche ist nahe bei den Menschen." Dass sich der Kirchenraum zur Natur öffnet, wirkt sich auch auf die Predigten aus: "Ich beziehe das Außen sehr stark ein", so der 51-jährige Geistliche. Jenen wiederum, die draußen sind, ist beim Blick ins Gotteshaus eine gewisse Schüchternheit anzumerken. "Wir sehen oft, was Schwellenangst ist", berichtet Mittag. Auch Störungen gehören dazu: Bei einer Konfirmationsfeier, erinnert sich der Gemeindepfarrer, warf ein Nachbar plötzlich seinen Rasenmäher an - ließ sich aber überzeugen, sein Grün anderntags zu kürzen.

Ortenberg atmet Geschichte und lebt mit Widersprüchen. "Das ist eine gewachsene Kirche", sagt Pfarrer Johannes Schatz und deutet damit schon die historischen Brüche an. Der romanische Teil des Gotteshauses ist der älteste, mindestens zehn Bauphasen lassen sich unterscheiden. Im Jahr 1324 erlaubte Papst Johannes XXII. brieflich die Renovierung der Kirche. Die damals in Ortenberg regierenden Herren von Eppstein – jenes Eppstein, in dem heute die Emmauskirche steht – träumten von einer großen Stadt in der Wetterau, samt Passionsspielen und Pilgerströmen. Sie hofften vergebens. "Faktisch wuchs danach nichts mehr", erläutert Johannes Schatz. Heute hat er nur zu besonderen Anlässen ein volles Haus.

"Das darf durchaus in einer Spannung stehen"

Dabei kann der Ortenberger Pfarrer auf etwas verweisen, das man Alleinstellungsmerkmal nennt: Ein protestantisches Gotteshaus mit Maria im Namen, das ist selten. "Die Kirche ist ursprünglich eine katholische Kirche gewesen", sagt Schatz. "Maria hat eine Funktion in der Christenheit, auch wenn sie für uns keine zentrale Rolle spielt." Die Mutter Jesu wird in der katholischen Kirche als Heilige verehrt – ein Gedanke, der reformatorisch gesinnten Christen fremd ist. "Wir stehen hier in einem historischen Gebäude und feiern Gottesdienst des 21. Jahrhunderts. Das darf durchaus in einer Spannung stehen", fügt der Geistliche hinzu. Er ist stolz auf die Ortenberger Protestanten, die sich ihre Maria nicht so einfach wegnehmen lassen.

Auch nicht von der Landeskirche, mit der man einst heftig stritt, als es darum ging, eine Kopie des berühmten Ortenberger Altars in der Kirche aufzustellen. Das spätgotische Meisterwerk aus dem 15. Jahrhundert zeigt die Sippschaft Mariens mit ihren "angedichteten Verwandten", wie Schatz ein wenig schelmisch sagt. Das Original hängt heute im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt, während die Nachbildung ihren liturgischen Dienst tut: Vom Karfreitag bis in die Osternacht wird das Altarbild zugeklappt. Dauerhaft zu sehen sind hingegen die faszinierenden floralen Zeichnungen an der Decke, die 1956 freigelegt wurden. Erst vor kurzem hat sich ein Freund des Pfarrers, ein Kunsthistoriker und Katholik, die Darstellungen etwas genauer angesehen: "Es sind alles Pflanzen, die im Zyklus der Marienkräuter vorkommen."

Jesus war nie in einer Kirche

Wann eigentlich begannen die Christen, sich Gotteshäuser zu bauen? Jesus hat naturgemäß nie im Leben eine Kirche betreten. Dass ein Raum, in dem der Glaube gelebt und weitergegeben wird, einen besonders sakralen Charakter haben muss, war den ersten Christen wohl fremd. Erst als das Christentum im vierten Jahrhundert mit Kaiser Konstantin Staatsreligion im römischen Reich wird, ändert sich das. Nun werden die Königshäuser, die nach wie vor Basilika hießen, in Kirchen umgestaltet. Das späte Mittelalter bringt architektonische Meisterwerke zur größeren Ehre Gottes hervor – vor allem die Gotik zeigt den Menschen, wie klein sie sind im Vergleich zu den Richtung Himmel strebenden Pfeilern und Kirchenfenstern in den Kathedralen.

Die Reformation greift zunächst auf die bestehenden Kirchbauten zurück. Neu entstehen allein Schlosskapellen – im Jahr 1544 war jene im Schloss Hartenberg bei Torgau der erste protestantische Neubau eines Gotteshauses. Eine spezifisch evangelische Architektur entwickelt sich erst in Abgrenzung zum süffig-sinnenfreudigen, katholisch geprägten Barock. Im 19. Jahrhundert wird heftig darüber diskutiert, ob der protestantische Kirchbau eher sakralen Charakter haben sollte oder aber der Wortverkündigung und als Heimstatt der Gemeinde dienen sollte. Soll der Altar als Ort des Abendmahls oder aber die Kanzel als Predigtstätte den Vorzug haben? Die Frage ist nicht entschieden. Kein Wunder, der Protestantismus ist die "Kirche der Freiheit".

Blickt man in der Emmauskirche von Eppstein-Bremthal nach vorne, fällt der kleine, abgegrenzte Altarraum ins Auge. Dort steht ein Tisch aus hellem Holz, dessen linken Fuß ein silberfarbenes Taufbecken bildet. Abendmahl und Taufe – die beiden Sakramente sind hier in einer horizontalen und vertikalen Linie verbunden. Im Fenster nebenan sowie auf einer mobilen Trennwand, die vor den Altarraum geschoben werden kann, hat der Kirchenkünstler Johann Schreiter seine Spuren hinterlassen – mit einem Grad von Abstraktion, das zu vielerlei christlichen Deutungen einlädt. Die Wand deutet die Vielfalt an, mit der die Kirche genutzt werden kann. 1.863 Gläubige gehören offiziell zur Emmausgemeinde. Typisch für das Rhein-Main-Gebiet ist das Kommen und Gehen – als die Kirche in Eppstein-Bremthal gebaut wurde, zog sie viele junge Leute an. Inzwischen sind alle Altersgruppen gleichmäßig vertreten. In der Gegend ist nur jeder fünfte Bewohner evangelisch.

Zwiegespräch mit Gott möglich

Anders in der protestantisch geprägten Wetterau. Heute hat die Gegend wenig wirtschaftliche Substanz. Vor allem in den 1980er und 1990er Jahren gingen viele Betriebe kaputt, es gibt viel Armut. Schatz sieht neue Chancen im Tourismus, etwa durch den Vulkan-Wanderweg oder den Bonifatiusweg, der durch Ortenberg führt. Die Marienkirche ist in den vergangenen Jahren grundlegend umgestaltet worden, das Ergebnis kann sich sehen lassen. "Dieser Raum spricht zu mir", heißt es im Gästebuch, oder: Hier sei ein "Zwiegespräch mit Gott" möglich. Im Zuge der Umgestaltung, die der Dieburger Architekt Claus Giel betreute, ist im rechten südlichen Seitenschiff der Marienkirche ein vielseitig nutzbarer Veranstaltungsort entstanden.

Ob alt oder neu, Kirche ist teuer. In die Ortenberger Marienkirche wurden 1,3 Millionen Euro investiert, 300.000 Euro musste die Gemeinde selbst aufbringen – unter anderem mit Pflasterpatenschaften und einer Weinflaschenaktion. "Was uns Geld bringen würde, wäre eine Stiftung", sagt Schatz. Diese Sorgen hat sein Amtsbruder Moritz Mittag in Eppstein-Bremthal nicht mehr. Seine Kirchenstiftung hat inzwischen 140.000 Euro Kapital, sie ist die "Altersvorsorge" der Emmauskirche. Und ein Förderverein sorgt als "Bausparkasse" für den Unterhalt. Das ganze Gotteshaus kostete seinerzeit 1,6 Millionen D-Mark – ein geistliches Schnäppchen. Dafür sind die Glühlampen aus dem Baumarkt. "Wir haben lauter so günstige Lösungen gesucht", so Mittag.

Die Hanglage. Das Licht, das den Kirchenraum erfüllt. Das protestantisch Vertraute. Die Spur Widerspenstigkeit, auch gegen die eigene Landeskirche. Nicht zuletzt der Glaube an Gott und die Botschaft Jesu: Der gotische Bau von Ortenberg und das Glashaus in Eppstein-Bremthal haben vieles gemeinsam. Gemeinsam ist ihnen auch, dass noch Dinge fehlen, dass es Hoffnungen gibt. "Das Gemeindehaus schreit nach Renovierung", sagt Pfarrer Schatz in Ortenberg. Eine neue Orgel ("Die alte löst sich gerade in ihre Bestandteile auf") will er gar nicht erst hoffen. Moritz Mittag in Eppstein freut sich auf die Glocken, die kurz nach Ostern gegossen wurden. Und dann wäre da noch die doppelte Verglasung, die in der Bauzeit als optimal galt. Heute ist Dreifachglas angesagt. So schnell überholt sich die Moderne.


Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de in Frankfurt am Main, Friederike Schaab arbeitet als Fotografin in Wiesbaden (www.fazit-design.com).

Der Beitrag ist dem soeben erschienenen Jahresbericht 2009/2010 der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau entnommen.