"Der Islam hat kein Zentrum, der Islam ist Nomadismus, Bewegung." Was deutsche Behörden beklagen, weil sie keinen Ansprechpartner für den islamischen Religionsunterricht und andere Fragen finden, sieht die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi als großen Vorteil. Besonders im Zeitalter des Internet, wo sich ein weltumspannendes muslimisches Netz, eine "digitale Islamgalaxie" gebildet habe.
500 panarabische Satellitenkanäle zählt Mernissi und sagt: "Je stärker die panarabischen Satellitenkanäle werden, desto mehr löst sich das europäische Territorium auf." Dem Westen, in ihrer Lesart zunehmend in wahnhaftem Konsum und Narzissmus versunken, bleibe da nur noch die Angst. "Der Westen sieht natürlich nur den Terrorismus, er sieht nicht diese Dimension, die immer wichtiger wird: Muslim zu sein, hilft dir im Business."
Marokkanische Zivilgesellschaft
Die 69-Jährige, viel unterwegs in Europa und den USA, kann selbst kaum fassen, was für weltumspannende Kontakte und Geschäfte das Internet ermöglicht. Aus ihrer Tasche zieht sie Papiere, die das an ihrem eigenen Fall illustrieren: Über ihre Webseite erreichten sie Anfragen zu Übersetzungen ihrer Werke ins Chinesische und in Malayalam, der Hauptsprache des indischen Bundesstaats Kerala.
Mernissi brauchte aber nicht das Internet, um berühmt zu werden. Die in Fez geborene Marokkanerin studierte in Rabat, Paris und Massachusetts und lehrte an der Universität in Rabat. Ihre Werke, die vor allem von der Rolle der Frauen im Islam, aber auch von der marokkanischen Zivilgesellschaft handeln, wurden in über 20 Sprachen übersetzt.
Positive Einschätzung der islamischen Welt
In einem ihrer Hauptwerke, "Der Politische Harem", legt Mernissi dar, dass viele überlieferte Aussprüche des Propheten Mohammed, die Frauen einen geringeren Status zusprechen, nicht sicher auf ihn zurückzuführen sind. Kritik erfährt die wohl bekannteste Feministin des Maghreb von vielen Seiten, auch für ihre bisweilen allzu positive Einschätzung der islamischen Welt und für ihr bisweilen divenhaftes Auftreten. Ihr großes Engagement für Rechte von Frauen und anderen benachteiligte Gruppen mit Schreibwerkstätten und anderen praktischen Initiativen bringt ihr jedoch viel Bewunderung ein.
Sie selbst legt Wert darauf, dass die Ulema, die Religionsgelehrten, sie in ihrer unorthodoxen Auslegung unterstützt haben. "Ich bin das Produkt der Ulema, die die Frauen gelehrt haben: Du bist ein außergewöhnliches Wesen, du hast Macht." Für Mernissi sind Frauen in den muslimischen Gesellschaften keine unterdrückten Opfer, sondern mächtige Strateginnen. Kopftuch, Schleier oder Burka, deren koranische Verankerung sie in Frage stellt, sieht sie vor allem als weibliches Instrument: "Der Schleier ist eine Art zu sagen: Hör mal, ich bin hübsch, ich bin nicht schlecht, oder?" Gerade den burkatragenden Französinnen sollte man ein Mikrofon geben und ihnen zuhören, um zu wissen, warum sie sich verschleiern, anstatt ein Burkaverbot zu erlassen.
50 Worte für Liebe
Im arabischen Satellitenfernsehen, ihrem aktuellen Untersuchungsobjekt, beobachtet Mernissi immer mehr gläubige, verschleierte Musliminnen, die offen über Körper und Sexualität reden. Denn im Gegensatz zum Christentum sei der Islam nicht lustfeindlich. Als nächstes Projekt will sich die Forscherin dem Begriff der Liebe widmen. 50 Worte gebe es im Arabischen dafür, erklärt sie mit einem vielsagenden Schmunzeln.