Ein Dinosaurier mit Millionen Fans: 30 Jahre Videotext
Medium aus der Steinzeit der elektronischen Kommunikation, Schnipsel-Lieferant, Design-Oldie - aber auch eine ungebrochene Erfolgsgeschichte: Der Videotext, anbieterbezogen ARD-Text, ZDF-Text oder ähnlich genannt, feiert seinen 30. Geburtstag. Wer sich jemals an den Service gewöhnt hat, will ihn nicht mehr missen, dem Internet und allen Smartphones zum Trotz.
25.06.2010
Von Thomas Östreicher

In launigen Worten beschrieb unlängst ein Berliner Journalistenkollege, wie er als Quelle für eine Neuigkeit in der Morgenkonferenz "hab ich vorhin im Videotext gelesen" zu Protokoll gab - und mit haltlosem Gelächter bestraft wurde nebst dem hämischen Kommentar, er sei ja "echt Eighties".

Stimmt genau. Im Juni 1980 startete mit 75 Texttafeln ein Zusatzangebot des Fernsehens, mit dem Redaktionsleiter Alexander Kulpok "programmbegleitende, programmergänzende und programmerläuternde Informationen" zu liefern versprach. An dem gemeinsamen Testbetrieb von ARD und ZDF waren auch fünf überregionale Tageszeitungen mit einer Pressevorschau auf 15 Seiten beteiligt.

Mut zur Lücke

"Dem Zuschauer bescherte das neue Medium eine völlig neue Erfahrung", vermerkt die ARD-Text-Redaktion rückblickend nicht ohne Stolz. "Er konnte nun selbst entscheiden, wann er sich über die Ereignisse des Tages informierte. Da Nachrichten sofort auf Sendung geschickt werden konnten, war das Videotext-Angebot hochaktuell." Und dabei ist es geblieben. Der Vorteil schneller, dabei zeitunabhängig abrufbarer Nachrichten, die es in dieser Mischung so nirgends sonst gibt, bleibt bis heute ungeschlagen.

Die "Austastlücke" macht's möglich: Ein analoges Fernsehbild nach hierzulande üblicher Fernsehnorm nutzt nur 576 der insgesamt 625 Bildzeilen. Anfang der 1970er-Jahre entwickelten BBC-Techniker ein Verfahren, um den leeren Bereich für Zusatzdienste zu nutzen.

Die Redaktion steht damit vor einer besonderen Herausforderung: Im Standardformat ist Platz für jeweils 25, anfangs sogar nur 13 Zeilen pro Seite mit maximal 40 Zeichen Text. Das zwingt zu einer Kürze, die allerdings viele Nutzer als angenehm empfinden: keine Abschweifungen, keine Fotos, kein gestalterischer Schnickschnack. Die pure Information.

Schneller auf den Punkt - und oft exklusiv

Viele seiner Informationen präsentiert der Videotext noch immer (nahezu) exklusiv. Aktuelle Programmänderungen etwa und Verschiebungen von Anfangszeiten vermelden ansonsten bestenfalls die (kostenpflichtigen) Hotlines der Programmzeitschriften. Filmuntertitel für Hörgeschädigte und Börsenkurse in Echtzeit sind weitere Highlights.

Videotext schloss seit jeher auch manche Lücke der Berichterstattung, zum Beispiel im Regionalen, sagt Bernhard Biener. Er war während seines Studiums in den 80er-Jahren freier Mitarbeiter in der Videotextredaktion des Hessischen Rundfunks und arbeitet heute als Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

"Die Spielergebnisse der Fußball-Landesliga gab es aktuell am Abend nirgendwo sonst. Wenn die mal etwas später kamen als gewohnt, gab es gleich Beschwerdeanrufe", erinnert er sich. Für ihn selbst hat das Medium seinen Reiz nie verloren: "Ich weiß, auf welcher Seite ich was finde und muss dafür nicht mal aus dem Fernsehsessel aufstehen", sagt er. "Der kurze Nachrichtenüberblick, welche Sendung gerade läuft und das Wetter sind Angebote, die ich nach wie vor sehr intensiv nutze." Langwieriges Hochfahren des Rechners am Schreibtisch entfällt.

Das belächelte Massenmedium

96 Prozent der Fernsehgeräte in Deutschland sind Videotext-tauglich. Laut Marktforschung schalten täglich annähernd 16 Millionen (verschiedene) Nutzer das Videotextangebot ein und lesen etwa sieben Minuten darin - keine schlechten Werte im Zeitalter der zunehmenden Beschleunigung. Und das trotz des völlig antiquiert wirkenden Designs.

"Videotext polarisiert schon gelegentlich", bestätigt Frauke Langguth, Leiterin der ARD-Text-Redaktion in Potsdam, die geschätzte 1000 Textseiten stets aktualisiert anbietet. Warum die Meinungen so auseinandergehen? "Es gibt drei Gruppen", hat sie beobachtet. "Einmal die, die uns gar nicht kennen. Dann die, die sich wundern, dass es das noch gibt. Als Drittes gibt es die Nutzer. Und wer unseren Videotext nutzt, findet ihn auch gut." Das sind nicht wenige: Der ARD-Text ist mit Abstand Marktführer und kam in den ersten fünf Monaten 2010 auf 18,9 Prozent Marktanteil. Dahinter folgt das ZDF mit 14,2 Prozent vor RTL mit 12,6 Prozent und Sat.1 mit 9,8 Prozent.

Vorsichtige Modernisierung

Die Glaubwürdigkeit ist das größte Plus aller Videotextangebote. Internet-Nachrichtendienste wie Twitter mögen genauso schnell sein - doch niemand kann deren Quellen überprüfen, ein authentischer Augenzeugenbericht ist vom lancierten Gerücht eines Spaßvogels nicht zu unterscheiden. "Wir dagegen stehen für die totale Seriosität - was bei uns steht, muss stimmen", sagt Frauke Langguth.

Was kurz nach seiner Einführung als "Einstiegsdroge in das totale Medienzeitalter" gescholten wurde, existiert längst auch im Internet (z. B. von ARD, ZDF, RTL und Sat.1) und sogar in mobilen Varianten für internetfähige Handys, die gerade ihrer Kürze und Schlichtheit wegen geschätzt werden.

Der neue Übertragungsstandard HbbTV (Hybrid Broadcast Broadband TV) eröffnet bald erstmals größere Gestaltungsfreiheit auch für den Videotext - mit einer größeren Farbpalette, vielfältigen Schriften und dazu barrierefrei, also behindertentauglich. Erste Entwürfe wurden bei der Internationalen Funkausstellung bereits vorgestellt. "Die Möglichkeit, dass zum Beispiel Sehbehinderte die Schrift vergrößern können, ist toll", sagt Frauke Langguth. Trotzdem sieht sie diese Entwicklung zurückhaltend - das Einbinden von Fotos etwa ist bis auf weiteres nicht vorgesehen. "Ein Archivbild zu einer Meldung wäre kein Mehrwert", findet sie.

Einstweilen bleibt also alles beim Alten - und die evangelischen "Gedanken zum Tag" sind täglich neu abrufbar auf der ARD-Text-Seite 439.


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.