Anlässlich seines 20. Geburtstags eröffnete das Taubblindenwerk in Fischbeck ein "Dunkelcafé" und lud eine Woche lang die Menschen aus der Umgebung dazu ein, sich mit allen Sinnen der völligen Finsternis zu überlassen. Dazu bauten die Mitarbeiter der "Werkstatt für behinderte Menschen" den großen Gemeinschaftsraum um zu einem Labyrinth, an dessen Ende das Café lag, mit Platz für etwa 30 Besucher. Viel Arbeit wurde darin investiert, den Raum wirklich absolut abzudunkeln.
"Schon die kleinste Lichtquelle zieht die Aufmerksamkeit aller auf sich", sagt Nina Schaper vom Blindenverein Hameln, die zu den Organisatoren gehört und selbst nur noch über einen winzigen Rest an Sehfähigkeit verfügt. "Ich habe extra meine Uhr mit dem Leuchtzifferblatt abgenommen, damit ich nicht das Licht bin, dass die Motten anzieht." Sie empfängt die ersten Gäste aus der Dorfgemeinschaft Fischbeck zunächst an einem Stand, der allerlei Gebrauchsgegenstände des Blindenalltags präsentiert, zur Einstimmung auf das bevorstehende Dunkelcafé-Erlebnis.
Essen im Dunkeln - wie soll das gehen?
Da gibt es zum Beispiel die Einschenkhilfe - einen kleinen Sensor, den man über den Glas- oder Becherrand hängt und der piept, sobald er mit einer Flüssigkeit in Berührung kommt. "Man kann natürlich auch einfach den Finger benutzen, um zu spüren, wann das Glas voll genug ist", sagt sie, ein guter Hinweis für später, wenn man sich als Gast im Dunkelcafé die Getränke selbst einschenken soll. "Ja - nehmen Sie dann ruhig den Finger dazu, es wird eh nur Kaltgetränke geben...!" Spätestens bei dieser Bemerkung wird die Nützlichkeit des Sensors allen klar.
Auch die anderen Gebrauchsgegenstände machen nach und nach deutlich, wie sehr ein funktionierender Blindenalltag auf spezielle Erfindungen angewiesen ist. Die digitale Haushaltswaage kann sprechen und das Wiegeergebnis angeben, der Nadeleinfädler bugsiert einen Faden durch das winzige Loch einer Nähnadel, das "Mensch-ärgere-dich-nicht"-Spiel verfügt über Einstecklöcher für die Figuren und kennzeichnetet die verschiedenfarbigen "Häuser" mit Blindenschrift. Der "Scheintester" verhindert Irrtümer bei Geldscheinen, indem man diese in eine Art Heftchen einlegt und dann an einer mit Blindenschrift markierten Stelle den Wert abliest.
So vorbereitet, wächst die Spannung bei der Vorstellung, dass man sich nun gleich im Stockdunklen bewegen soll. Und dann noch essen und trinken? Wie soll das gehen? "Sie haben doch hoffentlich auch Servietten bereit gelegt", sagt ein Mann und lacht. Ja, die gibt es, heißt es. Und noch viel besser: Wir werden einen Führer haben. Jeder der Viergruppen, die sich jetzt bilden, steht ein blinder Betreuer aus dem Blindenverein zur Seite. In unserem Fall ist das der 61jährige Klaus Beschenbosse, der seit seinem 14. Lebensjahr gar nichts mehr sehen kann. "Reichen Sie sich alle die Hand!", mahnt er. "Wer einmal verloren geht, der ist nicht leicht wiederzufinden!"
Lieber doch keine klebrigen Getränke
Also los, den Filzvorhang zum "Dunkelcafé" durchschritten. Mit einem Schlag ist alles anders. Ganz ohne Aufforderung hat jeder das Bedürfnis, seinen Vordermann zu berühren. Ohne den blinden Führer wären wir absolut hilflos gewesen, so schnell ist alle Orientierung verloren. Klaus Beschenbosse aber bewegt sich, als hätte er als Einziger eine Sichtbrille auf. Er kennt den Raum und die Gänge, die darin gestaltet wurden und lotst uns zu einer Wand, an der allerlei Säckchen mit zu ertastenden Gegenständen hängen. "Ah - Tannenzapfen", ruft eine Frau, "und hier: Wäscheklammern!" - "Psst", sagen die anderen. "Nicht alles verraten!" Man denkt einfach nicht daran, dass die Mitläufer ja nicht sowieso sehen konnten, was es zu fühlen gibt.
Spannend wird es, als wir einen Marktstand erreichen, mit Kisten voller Obst und Gemüse. "So ist es für uns beim Einkaufen", sagt unser Führer. "Wir müssen ja alles ertasten." Zucchini und Äpfel, Zitronen, Kartoffeln und Tomaten, alles frisch und gut, wie es scheint. Wir sind geradezu fröhlich, dass wir die Dinge auf Anhieb erkennen. Doch die eigentliche Herausforderung liegt noch vor uns: Regale eines Supermarktes. Zucker- und Mehlpackungen kann man grad noch so identifizieren, aber Konserven? Gläser mit Eingelegtem? Pappschachteln, in denen Reis sein könnte, aber auch Müsli oder Nudeln. "Ohne Begleiter einzukaufen, das ginge vielleicht in einem Tante-Emma-Laden, im Supermarkt ist das unmöglich!", so Klaus Beschenbosse.
Schließlich erreichen wir das Café, wo uns Elke Lücke in Empfang nimmt. Sie weist uns mit freundlich-selbstsicherer Stimme unsere Plätze zu. Wir sind drei Frauen und ein Mann, die sich locker vom Sehen kennen. Nun sitzen wir hier zusammen und haben nur die Stimmen. Seltsam, wie jung die klingen. Oder liegt es daran, dass wir ständig kichern und ein bisschen albern sind? Eine stößt fast das Glas um, das vor ihr auf dem Tisch steht, und schnell kommen alle zu dem Schluss, auf keinen Fall Cola oder Saft zu bestellen, sondern schlichtes, unklebriges Mineralwasser.
DIe Wurstsorten schmecken alle gleich
Wir ertasten Besteck und Serviette und dann steigt ein Duft in unsere Nasen. Elke Lücke bringt Teller mit Brotscheiben und allerlei Aufschnitt, zu dem ganz sicher eine Scheibe deftiger Mettwurst gehört und auch ein saures Gürkchen, unverkennbar am Geruch. Auch ein Butterpäckchen ist dabei - und schwupps, schon hat ein Gast sich die Hände vollgeschmiert, wir wissen es, weil er lachend flucht.
Nach und nach aber werden wir stiller. Es ist so eigenartig, im Dunkeln zu essen. Das Vollkornbrot schmeckt köstlich, auch Gurke und Tomate munden. Die Aufschnittsorten aber kann man gar nicht so richtig genießen, wenn man nicht weiß, wie sie aussehen. Achtzig Prozent aller Sinneseindrücke laufen über das Auge, erklärt die blinde Kellnerin. Kein Wunder, dass die Wurstsorten alle irgendwie gleich schmecken, zumal wir sie bereits mit dem ersten Bissen in den Mund gezogen haben. Ein angemessener Umgang mit Messer und Gabel - das wäre in dieser Situation einfach zu viel verlangt.
Fast mehr noch als unserer eigenes Experiment beeindruckt uns der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn alle anderen ringsum sehen könnten und nur wir alleine im Dunkeln säßen? Wie würden sie uns wahrnehmen? Was würden sie über uns denken? "Zum Glück sind hier keine Rotlicht-Kameras aufgestellt", meint eine der Frauen. "Ich merke gerade, dass ich nur nach unten gucke. Dass ich mich fühle, als sei gleich über mir eine Decke. Das wäre bestimmt ein komisches Bild."
Inzwischen wurden auch ringsum alle Tische mit Gästen besetzt, doch die spielen für uns keine Rolle, es ist so, als befänden sie sich in einem ganz anderen Raum. Gerne hätte ich unseren blinden Führer und auch Elke Lücke zu diesen Eindrücken befragt, doch die Worte dafür kommen mir erst viel später, so neu, radikal anders ist es, auf das Augenlicht zu verzichten. Als wir das Dunkelcafé verlassen und in den hellen Vorraum treten, sind alle wie geblendet.
Die Welt der Taubblinden ist noch mal anders
Jürgen Hennies, der die Herauskommenden dann zu einer Führung einlädt, ist der Leiter des Taubblindenwerkes in Fischbeck. Das ist eine der beiden zentralen Einrichtungen für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen in Deutschland. Wohnheime, Werkstätten und Gärtnerei verteilen sich in einem grünen Gelände am Rande des Dorfes, wo Erwachsene, Jugendliche und Kinder leben, arbeiten und so gefördert werden, dass sie mit allen ihren Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Kaum ein Dorffest in Fischbeck, wo die Bewohner aus dem Taubblindenwerk nicht mit dabei sind.
Im "Dunkelcafé" allerdings ist keiner von ihnen zu Gast. "Wer nicht nur nicht sehen, sondern auch nicht hören kann, lebt wie in einer anderen Welt", erklärt Mitarbeiterin Jutta Hennies. "Für die Taubblinden wäre der Schritt ins Dunkelcafé ein viel größerer als für Sehende. Wir müssten uns ganz speziell um jeden Einzelnen kümmern." Die blinde Rosel Kohlmeier, die auch zu den "Führerinnen" gehört, bestätigt das auf ihre Weise: "Wenn ich neben dem Augenlicht auch noch auf das Gehör verzichten müsste, dann hätte ich wohl den Schwarzen Peter gezogen."
Für sie und die anderen Blinden aus dem Blindenverein Hameln ist das Schicksal der Taubblinden genau so rätselhaft wie für die sehenden Besucher aus dem Dorf. Jutta Hennies hat dafür Verständnis. Sie selbst arbeitet schon seit vielen Jahren mit den taubblinden Menschen, kann sich mit ihnen über das Fingeralphabet verständigen und kennt alle Möglichkeiten, die sinnliche Wahrnehmung der Taubblinden anzuregen und mit ihnen zu kommunizieren. Doch das ist für heute ein anderes, ein zu weites Feld.
Cornelia Kurth ist freie Journalistin im südwestlichen Niedersachsen.