Alistair Little: "Die haben das Recht, mich zu hassen"
Mit dem Film "Five Minutes of Heaven" ist jetzt ein Film in den Kinos, der die Geschichte von Alistair Little erzählt. Der hatte als 16-Jähriger für eine protestantische Terrororganisation in Nordirland gemordet. In dem Film von Oliver Hirschbiegel werden die tatsächlichen Geschehnisse mit fiktionalen Elementen verbunden. Fakt ist: Alistair Little hat einen Weg herausgefunden aus dem Teufelskreis Hass und Rache. Das folgende Protokoll entstand nach einem Interview mit Alistair Little im Frühjahr 2002 in West-Belfast.
22.06.2010
Das Gespräch führte Axel Reimann

"A1s ich ins Gefängnis kam, dachte ich, dass Gott ein Protestant ist. Das half mir mit meinem Gewissen klarzukommen. Heute kann mir das nicht mehr helfen... Aufgewachsen bin ich in einer Nachbarschaft, die zu 100 Prozent protestantisch war. Alle meine Freunde waren Protestanten, die Schulen, die ich besuchte, waren protestantisch. Ich war 14 Jahre alt, als ich in den Konflikt hineingezogen wurde. Damals wurde der Vater meines besten Freundes von der IRA erschossen. Ich war bei seiner Beerdigung und das war die erste Beerdigung, die ich miterlebte. Auf dem Sarg lagen seine Handschuhe, weil er Soldat im Ulster Defence Regiment gewesen war. Einer seiner Kameraden spielte Dudelsack. Eine Menge älterer Leute standen herum. Auch seine kleine Tochter war da, sie war damals sieben Jahre alt. Sie saß im Rollstuhl, weil man ihr bei dem Überfall auf ihren Vater in die Beine geschossen hatte.

Ich erinnere mich, wie sie geschrien hat, dass ihr Daddy wiederkommen soll. Und mein Freund Grant hat geweint. Ich habe mich für ihn geschämt, weil: Mit 14 solltest du als Junge nicht mehr weinen. Aber auch andere weinten. Ich erinnere mich, dass ein paar Leute damals sagten, dass etwas getan werden müsse. Fünf von unseren Leuten waren da schon in der Nachbarschaft erschossen worden. Und niemand schien etwas dagegen zu tun. Als ich die Beerdigung verließ, schwor ich mir, dass ich Rache nehmen würde, wenn ich jemals die Chance hätte.

"Glaube, Kirche und Gott waren kein Thema"

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Ich hasste alle Katholiken, weil alle Katholiken für mich damals gleich waren, alles Mitglieder der IRA. Ich hab mich dann um Kontakt zu einer protestantischen paramilitärischen Organisation bemüht, der Ulster Volunteer Force (UVF). Für mich waren das Leute, die etwas taten und nicht nur redeten wie die Politiker. Zweimal haben sie mich abgelehnt. Sie sagten, ich sei zu jung. Dann machte ich was - was genau, will ich jetzt nicht sagen - und teilte der UVF mit, dass ich das gewesen bin. Da nahmen sie mich auf. Ich wollte etwas tun, meine Leute verteidigen. Und in der UVF waren wir eine Gemeinschaft, die das gleiche Ziel hatte.

Der individuelle Glaube, Kirche und Gott waren dabei kein Thema, höchstens in sehr intellektuellen, sehr persönlichen Gesprächen. Und die gab es selten. Es gab nur uns oder die. Die IRA wollte uns raus aus unserem Land haben, unsere Kultur und unser Erbe zerstören. Und ich wollte mir nicht von ihnen diktieren lassen, wie ich mein Leben zu leben hätte, oder mir von ihnen wegnehmen lassen, was mir wichtig ist. Oder dass sie Leute aus unserer Gemeinschaft ermorden könnten, ohne es von uns mit der gleichen Münze heimgezahlt zu bekommen. Das Denken war so: Wenn die einen von uns töten, töten wir zwei von ihnen, und wenn die zwei von uns töten, töten wir vier.

Eines Tages hörten wir von einem Protestanten, der von jemandem aus dem katholischen Lager bedroht worden war. Er sollte seinen Job aufgeben oder er würde erschossen werden. Wir fanden heraus, wer die Person war, die ihn bedroht hatte, und beschlossen das zu erledigen. Ich meldete mich freiwillig. Ich hab diesen Katholiken angerufen und ihn aufgefordert, seinen Arbeitsplatz aufzugeben, aber er hat sich geweigert. Ich bin dann zu ihm nach Hause gegangen und hab ihn erschossen. Ich war damals 16. Als dann in den Nachrichten gemeldet wurde, dass er tot sei, wusste ich, dass ich einen guten Job gemachte hatte. Und das war alles, was ich damals darüber dachte.

Selbstständig denken kann eine gefährliche Reise sein

Irgendwann fand die Polizei heraus, dass ich für den Mord verantwortlich war. Sie hatten mich bei einem Raubüberfall geschnappt und ich hatte dieselbe Waffe dabei. Mit 17 wurde ich verurteilt wegen Mordes, versuchten Mordes, bewaffneten Raubüberfalls, illegalen Waffenbesitzes und Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation. Meine Eltern, besonders meine Mutter waren am Boden zerstört. Nie hatte es bei uns zu Hause Hass oder Sektiererisches gegeben. Für meine Eltern war es falsch, was ich getan hatte. Und sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten: Einerseits war das, was ich getan hatte, in den Augen Gottes Sünde, andererseits war ich aber auch ihr Sohn.

Ich war 31, als ich wieder rauskam. Das war eine lange, schmerzvolle Reise. Ein Punkt war, dass ich langsam auch die Leiden der anderen Seite zu sehen begann. Früher war es mir doch scheißegal, wie viel Republikaner, Nationalisten oder Katholiken gelitten hatten. Schließlich hatten sie doch uns Leid zugefügt. Doch im Gefängnis änderte sich vieles für mich. Obwohl wir als loyalistische Gefangene von den republikanischen getrennt waren, gab es doch immer wieder Gelegenheiten, von den anderen etwas mitzubekommen, beim Zahnarzt zum Beispiel oder im Krankenhaus. Und dann waren da auch noch die Besuche von meiner Mutter. Die Besucher waren zwar getrennt von anderen, aber im Warteraum traf sie natürlich auch auf Mütter von republikanischen Gefangenen und so sahen sie sich fast jede Woche und redeten miteinander. Und manchmal erzählte sie mir dann davon.

Anfangs war ich wütend darüber und sagte ihr, sie solle das lassen. Aber sie machte weiter, weil: Das ist so ihre Art. Und so hörte ich ab und zu durch sie, was die Mütter der republikanischen Gefangenen erzählten. Wie es den anderen ging. Anfangs wischte ich es weg. Aber irgendwie sackte doch was ein. Irgendwas wurde dadurch gesät. Ich begann, mich über andere Konflikte in der Welt zu informieren. Ich fing an, Fragen zu stellen. Und ich erkannte, wie manche unionistische Politiker, die uns aufgerufen hatten, für Ulster zu kämpfen, uns den Rücken zeigten, als das politisch opportuner war. Da beginnst du dann eine Reise, stellst dir selbst Fragen, denkst zum ersten Mal selbständig. Und das kann eine gefährliche Reise sein, aber auf jeden Fall eine schmerzhafte. Manchmal dachte ich, ich würde mich selbst dabei verraten, nicht mehr der sein, der ich eigentlich war. Damals konnte ich mit niemandem darüber sprechen, was in mir vorging. Weil: Das hätte man als Verrat und Schwachheit ausgelegt.

Auch der Feind ist ein menschliches Wesen

Ich war ja ein politischer Gefangener, einer, der fest im Zellenblock der Loyalisten saß und gehasst wurde von den Republikanern. Aber ohne dass ich es damals ahnte, gingen ähnliche Gedanken auch anderen Gefangenen im Kopf herum. Und dann gab es da noch ganz bestimmte Ereignisse, die bei mir etwas auslösten. Eine Sache war zum Beispiel der Hungerstreik der republikanischen Gefangenen. Zwei Tage nachdem Bobby Sands starb [Sands war IRA-Mitglied und starb 1981 bei einem Hungerstreik im Gefängnis; d. Red.], war ich mit drei Gefängnisbeamten unterwegs zu einem Freigang. Sie saßen hinter mir im Wagen und ich hörte sie Witze machen über die toten IRA-Leute und darüber, dass sie es kaum abwarten könnten, bis der Nächste abkratzt.

Ich war so wütend darüber und hab mich umgedreht und sie angeschrien. Das war das erste Mal, dass ich republikanische Gefangene gegen irgendjemanden in Schutz genommen habe. Ich erinnere mich, wie ich zurückgekommen bin in meine Zelle und mich hingelegt habe und dass ich sehr verstört war. Und ich fragte mich: Warum habe ich gerade Bobby Sands verteidigt - einen, den ich verachtete, bei dem ich alles verachtete, für was er stand. Einer, der mein Feind war, einer, den ich ohne Zögern umgebracht hätte - und einer, der mich ohne Zögern umgebracht hätte. Dieser Vorfall mit den Wachen, das war vielleicht so was wie die Anerkennung, dass Bobby Sands ein Mensch war, dass er ein menschliches Wesen war wie ich - und dass er für etwas gestorben war, an das er glaubte.

"Es ist meine Schuld, die ich tragen muss"

Das war so was wie ein Wendepunkt für mich. Ich wusste, dass sich etwas in mir verändert hatte und dass Gewalt keine Lösung ist. Heute trage ich noch eine Menge Bitterkeit und Wut in mir, aber auch eine Menge Schuld und Bedauern. Viele schieben heute alles auf die politischen Umstände, darauf, dass wir eben in einem Krieg waren. Aber das reicht nicht aus. Erst wenn jeder seine menschliche Verantwortung für die eigenen Taten übernimmt, nur dann kann es überhaupt so etwas wie Versöhnung geben. Viele Leute würden mir da noch nicht folgen. Es ist einfach zu schmerzlich. Warum würdest du da in dich reinschauen wollen? Es ist viel einfacher zu sagen, da war dieser Krieg und ich musste meinen Platz einnehmen. Das geht für mich nicht mehr.

Es ist meine Schuld, die ich tragen muss. Ich werde oft gefragt, warum ich nicht die Angehörigen besuche und um Vergebung bitte. Ihnen sage, dass es mir Leid tut, dass ich ihren Bruder, ihren Sohn umgebracht habe. Das klingt nett. Es klingt wie der richtige Weg, der christliche Weg, aber das ist stereotyp. Ich glaube, dass ich kein Recht auf Vergebung habe, nicht von der Familie. Wenn ich diese Familie aufsuchen würde, wäre das wegen mir und nicht wegen ihnen. Das wäre nur dazu da, damit ich ein ruhigeres Gewissen hätte. Aber die haben doch das Recht, mich zu hassen. Die haben das Recht dazu. Ja, ich glaube an Gott und ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Aber ich bin sehr zögerlich, mich einen Christen zu nennen, weil ich nicht glaube, dass mein Leben jene Art von Leben widerspiegelt, von dem Christus befohlen hat, es zu leben. Nein, ich bin, glaube ich, kein Christ."


Axel Reimann ist freier Journalist im Hamburger Journalistenbüro "freizeichen".