"Ajde Srpska!": Ein WM-Besuch bei Frankfurter Serben
Ein Industriegebiet im Frankfurter Norden. Mittelständische Betriebe, 80er Jahre Tristesse. Hier, ganz versteckt in einem dreistöckigem Flachbau hat der serbische Kultur- und Kunstverein ORO sein Domizil. An der Tür lediglich ein Schild mit kyrillischen Buchstaben. Man ahnt, dass man am richtigen Ort ist. Heute gibt es allerdings keinen Unterricht in serbischer Folklore. Heute ist Fußball: Deutschland gegen Serbien, zweites Gruppenspiel, Beginn 13 Uhr 30.
18.06.2010
Von Karola Kallweit

Neun Personen sitzen in einem Raum, der locker fünfzig fassen würde. Da sind zum Beispiel Mile, Zoran und Aleksandar in ihren roten Serbien-Trikots. Da sind aber auch Charlie, ein älterer Serbe, eine hübsche Blonde, um die sich wahrscheinlich alles dreht, wenn sich nicht gerade alles um den Ball dreht und ein Radioreporter, der drei von den Jungs schon seit ein paar Tagen begleitet. Noch fünf Minuten bis zum Spiel und eigentlich ist alles wie immer, wenn die derzeit wichtigsten zweiundzwanzig Personen zweier Länder über ein Feld sprinten, um Tore zu schießen. "Wenn die Serben gewinnen gibt es Spanferkel auf der Zeil", tönt es aus der Ecke. Ein Unterscheid also doch: Andere Sieger, andere Sitten.

Mit viel Liebe zum Detail habe man die Räume eingerichtet, sagt Aleksandar Kotlaja. Die Couchecke am Fenster rechts, die Bar am Fenster links. Und zwischendrin – ein exaktes Arrangement aus Tischen und Stühlen, aus etwas, das aussieht wie Eiche rustikal. Die gerahmten Fotografien an der Wand zeigen Serbien, die andere Heimat. Aleksandar ist Vereinsmitglied seit 1989 und steht heute an der Bar. Seit er sechs ist tanzt der Serbe Folklore bei ORO. "Heimat, das ist schwierig, Heimat ist unten," sagt Aleksandar. Unten, das ist ein Ort, achtzig Kilometer westlich von Belgrad. Das ist der Ort, an den seine Eltern nach einem halben Leben in Deutschland wieder zurückgegangen sind. Dort ist die Verwandtschaft, ein Haus, Ländereien und Wald.

Mehr Freiheit

Das klingt nach mehr Freiheit als das Gallusviertel in Frankfurt, wo er in der Zeit zwischen den drei jährlichen Serbienurlauben aufgewachsen ist. Die Deutschen seien distanzierter und kühler als die Serben, nähmen sich nicht die fünf Minuten, um einen Kaffee zu trinken. Er selbst, so gibt er zu, mache das in Deutschland aber auch nicht. "An mir ist vieles deutsch: Kindergarten, Schule, Ausbildung bei Opel, Maschinenbaustudium an der FH." Und dann fügt er hinzu: "Wenn die Deutschen nicht so wären wie sie sind, so exakt, dann hätten sie heute auch nicht den Lebensstandard, den sie nun mal haben."

Das Fußballspiel beginnt. Bei ORO hat das staatliche serbische Fernsehen RTS die Sendehoheit. Die Stimme des Sprechers klingt ein wenig wie die von Moderatoren aus alten Radiobeiträgen, ein liebevoll präziser Sprachduktus. "Meeerrrtesaaackeeer, Schwaaiinstaaaiiiger." Jede einzelne Silbe wird betont. Besonders Schweinsteigers Name fällt jetzt häufig. In den ersten Minuten ist es vor allem er, der das Spiel der Deutschen macht und der die serbischen Jungs im ORO zum Schweigen bringt. Für wen ist man als Serbe in Deutschland? Für Serbien natürlich, da sind sie sich alle einig auch wenn sie sonst Schweinsteiger und den FC Bayern mögen.

Marin ein Verräter?

Zu deutschen Chips und deutschem Bier spricht die anwesende Fangemeinde vor allem serbisch. Dem Menschen vom Radio zuliebe wechseln sie manchmal auch ins Deutsche. Vor allem dann, wenn es etwas zu erklären gibt. Wie zum Beispiel die Sache mit Deutschlands Nummer 21, Marko Marin, einem Deutsch-Serben. "Der gilt bei uns schon eigentlich als Volksverräter. Früher hat der hier in einem serbischen Verein gespielt", meint Mile. Und dann, Gerangel in Südafrika. Ein Foul? Nach ein paar deutschen Aussetzern ist es jetzt ein Serbe, den es gelb erwischt. "Jebote", schallt ein serbischer Fluch durch den Raum und dann auf deutsch: "Das war doch voll überflüssig, was der da gemacht hat, wenn der wenigstens den Ball getroffen hätte." Und als Klose in der 36. Minute Klose vom Platz fliegt, sind sie noch immer diplomatisch: "Die Verteidigung der Serben ist immer noch nicht gut." Wer Völkerverständigung sucht, der findet sie hier. Eine Minute später ist das erst einmal egal. Tor für Serbien. Die Jungs rasten aus. Sie tanzen und springen, fallen zu Boden. Dann werden die Handys gezückt. In der Multimediawelt gibt es keine Grenzen.

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Mit verbundenen Augen und des serbischen nicht mächtig, würde man trotzdem dem Spielverlauf folgen können. Fluch und Lob sind zwar auf serbisch aber es ist der Tonfall, der die Bedeutung verrät. Was anders ist: sie singen mehr. Kurze Lieder, lange Lieder, schöne Lieder, grölende Lieder. Und immer wieder "Srpska!" Je mehr gelbe Karten es auf dem Spielfeld hagelt, desto inbrünstiger singt man im ORO. Als dann Podolski in der 59. Minute den Elfmeter verschießt, gibt es nur noch eine Sache, die die Serben vom Sieg abhalten kann.

Die verflixte 70. Minute

Die schicksalsträchtige 70ste Minute. Auf allen serbischen Mannschaften läge ein Fluch. Wenn Serbien führt dann immer nur bis zur 70sten Minute. Danach hole der Gegner auf, heißt es unter serbischen Fans. So bangst sich nun die Gruppe im ORO der 70sten Minute entgegen. "Spielt um Euer Leben" ruft jemand und fast vermeint man zu spüren, dass es hier gerade wirklich darum geht. Ums Leben.

Als die 70ste Minute vorbei ist stehen sie alle betend und bewegt vor der Leinwand. Die Serben haben eine Torchance nach der anderen und trotzdem meint man ihren Gesichtern den Unglauben über den möglichen Sieg abzulesen. "Wenn wir jetzt zu selbstsicher werden, dann verlieren wir auf jeden Fall gegen Australien", sagt Zoran. Zorans Frau trägt auf der Arbeit ein Deutschlandtrikot. Für alle Fälle. Noch ein paar Sekunden und dann, der Schlusspfiff. Serbien hat gewonnen.


Karola Kallweit ist freie Journalistin und absolviert aktuell ein Praktikum bei evangelisch.de