Die Normalität der Verschiedenheit
"Alle Menschen sind anders", so lautet der Grundgedanke des 15. Weltkongresses von "Inclusion International" für und mit Menschen mit geistiger Behinderung und Vertretern aus Politik und Behindertenhilfe. Im Mittelpunkt des internationalen Treffens in Berlin steht in diesem Jahr die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen und deren praktische Umsetzung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene.
18.06.2010
Von Cornelius Wüllenkemper

Es ist ein Leben jenseits des Gesundheitswahns, des imperativen Leistungsprinzips, der falsch verstandenen Selbstperfektion und der rein ökonomischen „Wertigkeit“. Mehr als 2300 Teilnehmer, davon ein Drittel Selbstbetroffene, und 170 Referenten aus 72 Nationen treffen sich derzeit in Berlin, um sich und der Öffentlichkeit zu zeigen, dass behinderte Menschen integraler Bestandteil der Gesellschaft sind. Denn Menschen mit Handicap sind nicht behindert, sondern werden vielmehr behindert, ein ihnen entsprechendes Leben in der Gemeinschaft zu führen.

"Inclusion International", die globale Vereinigung von Organisationen, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzen, rückt beim 15. Weltkongress die "neue DNA der Behindertenbewegung" in den Fokus, so Yannis Vardakastanis vom Europäischen Behindertenforum: Die 2008 von den Vereinten Nationen verabschiedete Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die bis heute mehr als 60 der 145 Unterzeichnerstaaten ratifiziert haben.

Selbstwahrnehmung

Nun soll es darum gehen, wie aus Recht Wirklichkeit wird. „Nach der Konvention muss sich alles ändern, das Denken und das Handeln“, betont der Selbstbetroffene Vardakastanis in seinem Vortrag über die lokale und nationale Umsetzung der UN-Konvention. „Wichtiger als die Wahrnehmung der Anderen ist unsere Selbstwahrnehmung. Wir müssen den Inhalt der Konvention kennen, wir müssen wissen, wo unser Platz in der Gesellschaft ist. Wir müssen uns ändern, um die Gesellschaft zu ändern“.

Eines der wichtigsten Schlagworte des Kongresses ist „Selbstbestimmung“. Die bereits in vielen Staaten rechtsgültige UN-Konvention fordert die gleiche Anerkennung vor dem Recht, eine unabhängige Lebensführung und volle Einbeziehung in die Gesellschaft (Inklusion), die Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, den Zugang zum allgemeinen Bildungssystem sowie die freie Entscheidung wo und mit wem man leben will – die allgemeinen Menschrechte sollen endlich für alle Menschen gelten.

Gemeinschaft von Menschen

Dass es auch in Deutschland mit der vollen Einbeziehung in die Gemeinschaft von Menschen mit Behinderung noch nicht allzu weit her ist, betonte Rainer Knapp von der Gemeinnützigen Werkstätten und Wohnstätten GmbH. „Wenn wir nicht die Möglichkeiten an den individuellen Menschen anpassen, ist eine eigenständige Lebensführung nicht möglich.“, so Knapp. Nicht die Politik und Sozialträger sollten über die Lebensumstände Behinderter Menschen bestimmen, sondern diese selbst. Menschen ließen sich nun einmal per se nicht in Kategorien und Kontingente aufteilen, betonte Knapp und forderte, behinderten Menschen Ausbildungs- und Berufsweg nach eigener Wahl zu ermöglichen, und dabei weniger die wirtschaftliche Verwertbarkeit als die persönliche Entfaltung und Betätigung des Individuums zu verfolgen.

Im Pannel über ethische Fragestellungen in der UN-Konvention hob der Heilpädagoge und Sozialtherapeut Johannes Denger hervor, dass Menschen nur im Verhältnis zu architektonischen oder geistigen Barrieren behindert werden. „Als Nicht-Behinderter kann man viel von Behinderten lernen. Menschen mit Handicap haben eine enorme Willenskraft, Hürden zu überwinden, und mehr als Andere die Möglichkeit, ihre eigenen Fähigkeiten zu entdecken und zu trainieren.“

Autonomie, Barrierenfreiheit, Iklusion

In Anlehnung an Peter Sloterdijk nannte Denger behinderte Menschen die „Dozenten der Lebensbedingungen der Menschheit“. Die Trias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ übersetzte er in „(assistierte) Autonomie, Barrierenfreiheit, Inklusion“. Die UN-Konvention soll helfen, das Verständnis von seelischen, geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen als natürlicher Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft sowie als kulturelle Bereicherung weltweit zu verankern.


Cornelius Wüllenkemper ist freier Journalist und lebt in Berlin.