Für einen Schritt zur Versöhnung ist es nie zu spät
Der neue britische Premierminister David Cameron entschuldigt sich bei Nordiren. Für einen Schritt zur Versöhnung ist es schließlich nie zu spät, findet Peter Kristen. Eine Andacht nicht nur zum Nordirlandkonflikt.
18.06.2010
Von Pfarrer Dr. Peter Kristen

Public viewing auf einem Marktplatz. Tausend Menschen drängeln sich vor der Großleinwand. Sie verfolgen gespannt die Fernsehübertragung und halten Transparente hoch. Da brandet lauter Jubel auf. Die Menschen reißen erlöst die Arme hoch und applaudieren.

Da ist kein Tor gefallen, kein Schlusspfiff ertönt. Am Dienstag dieser Woche in Londonderry in Nordirland waren die Menschen trotzdem überglücklich und bewegt. Sie jubeln, weil der britische Premierminister David Cameron öffentlich die Wahrheit sagt über das, was vor 38 Jahren auf diesem Platz geschehen war,
am sogenannten "Bloody Sunday": Britische Soldaten hatten 1972 über hundertmal in eine Menge von Demonstranten geschossen und dabei vierzehn Menschen getötet, die meisten von ihnen waren Jugendliche.

3.500 Tote

Offizielles Ergebnis des Untersuchungsausschusses: Die britischen Soldaten hätten sich nur gegen Gewalt verteidigt. Daraufhin hatte sich der Konflikt zwischen pro –irischen Katholiken und pro-englischen Protestanten in Nordirland verschärft, viele Jahre. Mehr als 3.500 Menschen hat er das Leben gekostet.
Dann aber doch eine zweite Untersuchung: 900 Zeugen haben ausgesagt, Millionen hat es kostet. Und jetzt, 38 Jahre nach dem Bloody Sunday, steht der britische Regierungschef David Cameron da und erkennt die Schuld der Regierung an.

Der neue Bericht hatte die Wahrheit festgestellt: Die Demonstranten damals waren nicht gewalttätig oder bewaffnet, sie trifft keine Schuld. Die Soldaten hatten die Kontrolle verloren und ein Blutbad angerichtet.
„I am deeply sorry“, sagte Cameron. Es tut mir zutiefst leid. Das war nicht so dahingesagt, das spürten die Menschen diese Woche auf dem Marktplatz von Londonderry.

Unrecht verjährt nicht

Man könnte sich fragen: Was bringt das jetzt noch? Nach 38 Jahren! Unrecht verjährt nicht, jedenfalls nicht in den Herzen der Menschen. Und: Die Wahrheit ist der erste Schritt auf dem Weg von der Schuld zum neuen Leben. Erst muss klar sein, wer wirklich schuld war. Dann der zweite Schritt: Einer spricht das aus und bittet um Verzeihung. Und dann, als drittes, hören die Geschädigten die Bitte und akzeptieren sie. Dann ist die Schuld wirklich ausgeräumt und der Weg ist frei zum neuen Leben. So sieht Versöhnung aus.
Dieser Weg muss sorgfältig beschritten werden. Leere Formeln reichen da nicht.

Wer selbst schon mal schuldig geworden ist, weiß: Man kann es sich nicht ersparen, wirklich um Entschuldigung zu bitten und bange Momente auf die befreiende Reaktion zu warten. Egal, wann der Weg von der Schuld zur Versöhnung begonnen wird, er führt nur Schritt für Schritt zum Ziel. Respekt vor allen in England und Nordirland, die ihn begonnen haben. Der Jubel der Menschen nach 38 Jahren zeigt: Für eine Entschuldigung ist es nie zu spät.


Die Andacht von Pfarrer Peter Kristen aus Limeshain-Hainchen stammt aus der Sendung "Zuspruch" des Radiosenders HR1.