Leben mit Demenz: Die Geschichte der Familie Krieg
Gisela Krieg ist dement, Alzheimer lautet die Diagnose. Nachdem sie ins Pflegeheim umgezogen war, lebte Heinz Krieg zunächst weiter in der eigenen Wohnung - aber die Trennung war ihm zuviel, er entschied, auch in das Heim zu ziehen, in ein eigenes Zimmer im gleichen Haus. So können die beiden wieder beisammen sein. Katharina Weyandt hat das Ehepaar Krieg im vergangenen Jahr schon einmal besucht, jetzt war sie wieder dort.
17.06.2010
Von Katharina Weyandt

Ich treffe das Paar wie gewohnt am Frühstückstisch im Restaurant des Seniorendomizils. "Mein Mann pflegt solche Dinge offen mitzuteilen", kommentiert Gisela Krieg mein Kommen. Sie wirkt nervöser als vor einigen Monaten. "Was soll ich damit machen?" "Was machen wir nu?" Das fragt sie immer wieder. Heinz Krieg bemerkt dazu: "Am Anfang hat mich das genervt. Jetzt erkenne ich darin die Urfrage der Menschheit. Als sie in der Höhle saßen, fragten die Frauen, und die Männer antworteten, dass sie ein Wisent jagen wollten. Und die Männer fragten, und Frauen sagten, dass sie Wurzeln ausgraben wollten." Seine Frau wehrt ab: "Ich verstehe kein Wort, aber das macht nichts."

Als er ihr ein Glas Saft reicht, zitiert sie den alten Werbespruch: "Der Mensch ist keine Maschine, er braucht seine Vitamine." Dann erzählt er ihr den neuen Vorschlag, dass sie künftig wieder getrennt zu Mittag und zu Abend essen. Sie reagiert: "Das wird so oft verändert, dass ich das nicht behalten kann."

"Früher hatte sich ja meine Frau um mich gekümmert"

Später in ihrem Zimmer im Sessel lächelt sie, entspannt sich. Ihr Mann liest den Bibelspruch des Tages aus den "Herrnhuter Losungen" vor – ein jahrzehntelang geübtes Ritual - sowie ein selbst ausgewählten Gebet von Comenius. Dann folgt ein Gedicht von Mascha Kaleko, er erwähnt: "Wir haben sie in Berlin im Amerikahaus erlebt, ein Jahr vor ihrem Tod". Frau Krieg steigt in das Gespräch ein. Man merkt an der Art, wie sie den Namen der Dichterin nennt, wie vertraut er ihr ist.

Dann begleitet Heinz Krieg seine Frau in den Tagesraum der Wohngruppe und zeigt mir sein Zimmer im 6. Stock, sein Atelier mit dem weiten Ausblick. Es riecht nach Farben, die Wände hängen voller Bilder, vor allem aus der neuen Serie "Über Hamburgs Dächern". Als er während seiner Krankheit im Winter ans Bett gefesselt war, so sagt er, "fühlte ich mich so allein und unversorgt" - trotz Pflegedienst und Besuchen von Schwester und Töchtern: "Früher hatte sich ja meine Frau um mich gekümmert." Aus diesem Gefühl heraus entschied er sich für den Umzug und erfüllte damit auch einen sehnlichen Wunsch seiner Frau, wieder mit ihm unter einem Dach zu wohnen. Er schwärmt: "Jetzt habe ich das schönste Zimmer meines Lebens." Auch wenn ihn nur noch ein winziger Bruchteil seiner Bibliothek umgibt. Es tröstet ihn, dass ein ganzer Schrank voller Tagebücher und anderer Werke in der Gästewohnung der Familie Platz gefunden haben.

Jeden Tag einen Liebesbrief an seine Frau

Offen redet er von seiner Frau: "Dass mein Leben einmal so enden würde, das habe ich nicht gedacht. Wir können nur noch wenig miteinander sprechen. Aber wenn ich morgens komme, dann ist sie meist schon gewaschen und angezogen, dann sagt sie mit einem Blick, schön wie am ersten Tag: 'Ich liebe Dich' und ich: 'Ich liebe dich auch'. Oder wenn ich sie nach dem Mittagessen hinlege und den Vorhand etwas zuziehe und ihr schöne Gedanken wünsche, dann sagt sie auch: 'Ich liebe dich.'" Jeden Tag schreibt er ihr einen illustrierten Liebesbrief, der sich in dicken Ordnern sammelt. Beim Anschauen der Familienfotos an seiner Wand erwähnt er: "Die Enkelin tut mir so leid, sie hat geheiratet und nach zwei Jahren haben sie sich schon wieder getrennt. Hättet ihr doch vorher über das eine und andere geredet, meine ich."

Wie ist der Kontakt zu den Kindern? Carola, die immer ein besonders enges Verhältnis zur Mutter hatte und als erste die Demenz bemerkte, ruft ihren Vater jeden Tag an. "Die andere Tochter hat mir neue Kleidung besorgt nach dem Brand. Der Sohn, der in Hamburg lebt, besucht mich mit der jüngsten Enkelin. Mit den anderen stehe ich brieflich oder telefonisch im Kontakt." – "Jetzt kann ich meine Eltern verstehen, die immer darauf bestanden, dass sie jede Woche erfahren haben, wie es uns ergeht", setzt Heinz Krieg noch hinzu. Jetzt – mit fast 89!

"Gespannt, was im Jenseits kommt"

Und noch etwas: Er nimmt ein Foto einer jüngeren blonden Frau vom Schreibtisch, auf einen selbst gebastelten Pappständer geklebt: "Ich habe eine Freundin. Sie ist Tierärztin und sorgt dafür, dass wir kein Gammelfleisch bekommen. Mit ihr kann ich mich austauschen über das, was ich so auf dem Herzen habe. Meine Ehe tangiert das gar nicht. Ich bin für sie so etwas wie ein Ersatzvater und für die kleine Tochter ein Großvater. Ihre Ehe ist auseinander gegangen. Jetzt kommt ihre Mutter zum Probewohnen ins Heim. Sie sprach mich im Gottesdienst auf meine Erfahrungen hier an. Dann hat sie mich besucht, so haben wir uns kennen gelernt."

Heinz Krieg weist noch einmal auf den Himmel vor seinem großen Fenster. "So mache ich weitere Erfahrungen und bin gespannt, was im Jenseits kommt."

Heinz Krieg schreibt jede Woche Briefe über das Leben mit seiner Frau. Wir zeigen mit freundlicher Genehmigung Auszüge aus diesen Briefen. Ein Einblick in das Leben der Familie und die Entscheidung von Heinz Krieg, mit seiner Frau ins Pflegeheim zu gehen.


 

Katharina Weyandt arbeitet als freie Journalistin für evangelisch.de und betreut den Kreis "Wenn die Eltern älter werden" in unserer Community.