Gespenstische Leere am Dienstag in der Leipziger Innenstadt: Gegen 12.30 Uhr meldet sich eine Mitarbeiterin der H&M-Filiale bei der Polizei und sagt, ein bewaffneter Mann sei im Modehaus. Der Unbekannte hat Geiseln in seine Gewalt gebracht, wie viele ist unklar. Die Polizei sperrt die sonst belebte Haupteinkaufsstraße weiträumig mit rot-weißem Flatterband ab. Gut 70 Geschäfte in den benachbarten historischen Messehof-Passagen werden geräumt. Dann herrscht stundenlang banges Warten. Erst nach mehr als drei Stunden geht die Geiselnahme unblutig zu Ende. Der Täter ist ein 41 Jahre alter Mann, sein Motiv unklar.
Geiseln unter Schock
Es ist fast nichts, was Polizeisprecherin Uta Barthel in den ersten ungewissen Stunden sagen kann. Nicht, wie viele Kunden der Mann in seiner Gewalt hat. Nicht, was der Geiselnehmer überhaupt will. Nicht, wie viele Menschen das Kaufhaus unverletzt verlassen konnten. Die überwiegend jungen Frauen, die am Mittag noch herauskamen, seien "schwer geschockt". "Wir haben sie nicht groß befragt. Sie sind in einem psychisch labilem Zustand, haben geweint", sagt Barthel. Ungefähr zehn Leute soll der Mann laufen gelassen haben. Ärzte kümmern sich um sie. Immerhin: Geschossen wurde nicht.
Die Polizei richtet in einem benachbarten Kaufhaus einen Einsatzstab ein. Das Sondereinsatzkommando SEK wird angefordert, die schwer bewaffneten Spezialkräfte in blau-schwarzen Kampfanzügen treffen wenig später ein. Auch eine sogenannte Verhandlungsgruppe aus Dresden soll nach Leipzig kommen. "Wir nennen sie Erstsprecher. Sie sind speziell geschult, das erste Gespräch mit Geiselnehmern zu führen", sagt Polizeisprecherin Anke Fittkau. Dann, gegen 16 Uhr, die erlösende Nachricht: "Der Geiselnehmer hat während der Verhandlungen aufgegeben. Er hat einige Geiseln freigelassen. Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut." Medizinische Gründe sollen ihn zu der Schreckenstat bewegt haben, formuliert Fittkau nebulös.
Über den Dächern kreist ein Hubschrauber
Die Passanten regieren entsetzt auf die Tat. "Ich arbeite seit 20 Jahren hier", sagt die Mitarbeiterin eines Reisebüros. "Aber so etwas habe ich noch nie erlebt." Eine Gruppe jugendlicher Besucher steht ratlos in der Nähe. Sie waren auch bei H&M, mussten ihre Sachen fallen lassen und sofort raus, wie sie erzählen. Die Nerven liegen während der zermürbenden Stunden der Geiselnahme blank. Als zwei junge Frauen ein Fahrrad aus der abgesperrten Zone holen wollen, herrscht ein Polizist sie an: "Hey, nein, raus! Was ist ihnen wichtiger - ihre Sicherheit?"
Kurz vor halb vier gehen sechs Polizisten in schusssicheren Westen und mit Schutzhelmen auf dem Kopf, an die Wände gedrückt, zum Eingang des H&M-Kaufhauses. Sie betreten das Gebäude. Zugriff? Zunächst einmal passiert erstmal nichts. Nur ein Hubschrauber knattert über die Dächer der Stadt und verstärkt die beängstigende Atmosphäre. Dann fahren mehrere Autos mit abgedunkelten Scheiben davon, auf den Gesichtern der Einsatzkräfte macht sich Erleichterung breit. Die Geiselnahme ist zu Ende. Kurz darauf ist es wieder wie immer in der Haupteinkaufsstraße - nur H&M bleibt gesperrt.