Die "New York Times" als Vorbild fürs Lokale
Chefredakteur Markus Günther, zehn Jahre Korrespondent für deutsche Regionalzeitungen in Washington, ist seit einem Jahr damit betraut, die "Augsburger Allgemeine" zukunftssicher machen zu wollen. Die Orientierung an Standards des klassischen Zeitungsjournalismus in den USA ist im Innovationsprozess ein ständiger Begleiter.
15.06.2010
Von Ralf Siepmann

Das U-Bahn-Unglück in der US-Hauptstadt fordert neun Tote, Frauen, Männer, Kinder. Die Menschen sprechen darüber, manche trauern. Dann beschäftigen neue Nachrichten die Einwohner. Etliche Tage später kommt die „Washington Post“ mit der persönlichen Geschichte jedes einzelnen der Getöteten auf den Markt. Reporter hatten den Tagesablauf der Opfer bis zu jener Minute akribisch recherchiert, als die U-Bahn neun Leben auslöschte. Zu jeder Geschichte gibt es Porträtfotos. Nüchterne Zahlen aus Polizeiberichten bekommen so ein Gesicht.

Markus Günther, zehn Jahre USA-Korrespondent deutscher Regionalzeitungen, erzählt diese Geschichte immer mal wieder. "In Deutschland", pflegt er genauso regelmäßig wieder einzuschränken, "würden wir so etwas nie tun." Nicht Tage später und nicht so tief in der persönlichen Sphäre Einzelner. "In den USA", sagt Günther, "sind personenbezogene Daten viel besser verfügbar. Das mag man unter Datenschutzgesichtspunkten unterschiedlich beurteilen, aber für einen Journalisten sind das einfach bessere Recherchebedingungen."

Standrads des US-Journalismus

Im Juli letzten Jahres wechselte Günther, 1965 in Bottrop geboren, vom Potomac an den Lech, praktisch vom Weißen Haus zu Rat-, Zeug- und Fuggerhaus in die Provinz. Seit November ist er als Chefredakteur der „Augsburger Allgemeinen“ für Kurs und Qualität der Regionalzeitung verantwortlich. Standards des klassischen US-Journalismus sind ein täglicher Begleiter. Wie das Gros der deutschen Zeitungen muss das im bayerisch-schwäbischen Kernland führende Blatt unter den Bedingungen des digitalen Medienumbruchs modernisiert werden. „Storytelling“, ist sich Günther sicher, wird ein Mittel sein, die Zeitung in der Flut der digitalen Angebote überlebensfähig und unverzichtbar zu machen: „Die Zeitung der Zukunft wird ganz wesentlich ein Erzählmedium sein. Auf diesem Weg sind die Amerikaner schon viel weiter als wir.“

Die „Augsburger Allgemeine“ druckt über 240 000 Exemplare. Rund 350 000 sind es im Verbund mit der „Allgäuer Zeitung“, die den in Augsburg produzierten Mantel übernimmt. Eine solide Ausgangsbasis, von der Günther mit seinem Führungsteam gestartet ist, um das Blatt behutsam weiterzuentwickeln. Aktionismus ist nicht die Mentalität der Augsburger. Zeitung machen, vor allem Zeitung ändern ist in einem Raum, wo sich viele Menschen (noch) mit „ihrem Blatt“ identifizieren, eine sensible Sache. Die journalistische Tradition will die Eigentümerfamilie gewahrt sehen. Für diese steht Heinrich Heine. Er war einer der Vorläuferzeitungen als Pariser Korrespondent verbunden.

Reise durch die Außenredaktionen

Natürlich sah sich Günther in der Augsburger Redaktion mit der Frage konfrontiert, warum „ausgerechnet“ ein „Kreativer“ ausersehen sein sollte, den Changeprozess von einer Zentral- und 16 Lokalredaktionen samt Onlineauftritten zu managen. „Es versteht sich von selbst“, meint er, „dass manche sagen: Das geht gar nicht, da fehlen zu viele Erfahrungen in der Hierarchie, im Management, in der Menschenführung“. Das stimme jedoch nicht. „Es fehlen zwar bestimmte Erfahrungen, aber wichtiger für die Zeitung ist, dass ein echter Journalist an der Spitze der Redaktion steht und kein Manager.“ Günther gewann die Skeptiker und an Akzeptanz im eigenen Haus durch kleine Gesten, die durchaus größere Folgen auslösten.

Er reiste durch sämtliche Außenredaktionen. „Wir waren verblüfft“, berichtet einer deren Leiter, „dass da einer kam, der einfach nur zuhören wollte“. Er wandelte die tägliche Blattkritik, früher eine Art Einbahnstraße des Chefredakteurs, um in ein Manöver, bei dem jeder Redakteur einmal an das Steuer der Diskussion darf. Sein Vorbild: die ausgeprägte Debattenkultur der USA. Der Ex-Korrespondent beschreibt sie als „lebhafter, besser geführt und liberaler“ im Vergleich zur deutschen.

Verluste an Reichweiten

In den USA machen die Zeitungen die tiefste Krise seit Jahrzehnten durch, haben Verluste an Auflagen, Reichweiten und Erlöse dramatische Ausmaße angenommen. In Deutschland hat die gedruckte Presse mit wachsenden strukturellen und wirtschaftlichen Problemen zu tun, ist sie in einem tief greifenden Strukturwandel ausgesetzt. Trotz der „schmerzlichen Anpassungsprozesse“ blieben die guten US-Zeitungen den hiesigen überlegen, sagt Günther. „Selbst die umfangreichsten deutschen Zeitungen haben nicht so viel Platz und nicht so viele Leute wie die großen amerikanischen Zeitungen. Zum Teil wird das den US-Zeitungen jetzt zum Verhängnis. Aber aus Sicht der Leser und der Zeitungsmacher sind das eigentlich traumhafte Bedingungen gewesen. Sie können einfach mehr auf die Beine stellen, und sie haben immer noch den Platz, ihre Geschichten groß zu präsentieren.“

Großzügigere Platzverhältnisse helfen nach Günthers Einschätzung „Washington Post“, „New York Times“ und anderen führenden US-Titeln bei einem Problem, „mit dem wir uns in Deutschland schwerer tun: Wie verbindet man Chronistenpflicht mit Erzählformen in der Zeitung?“ Die Amerikaner brächten einfach beides. „Wir müssen oft versuchen, beides in einem Text miteinander zu verbinden. Das ist schwerer.“ Allerdings gebe es auch Stärken der deutschen Zeitungen.

Trennung von Nachricht und Kommentar

So würden anders als in den USA Nachricht und Kommentar deutlich getrennt und Leitartikler stets namentlich genannt. Die Themen Kriminalität und Justiz spielten in den deutschen Zeitungen eine sehr viel geringere Rolle als bei „Chicago Tribune“ & Co.. Dabei mag man lange darüber sinnieren, dass Boulevard-Zeitungen wie „Bild“ oder „Express“ in den USA nicht existieren. Gäbe es „Bild“ in Deutschland nicht, wäre der Boulevard-Anteil der deutschen Regionalzeitungen vermutlich auch höher.


Ralf Siepmann ist freier Journalist. Er lebt in Bonn.