Soziologe: "Public Viewing" hat quasi-religiösen Charakter
Für den Frankfurter Sportsoziologen Robert Gugutzer ist das gemeinsame Schauen von Fußballspielen auf Großbildschirmen eine "Sonderwelt mit quasi-religiösem Charakter".

Gemeinsam prozessiere man zum Versammlungsort, es würden religionsähnliche Symbole gezeigt, Reliquien getragen, Rituale praktiziert, Gesänge angestimmt und auf ein "ekstatisches, gar transzendentes Aufgehen in der Masse gehofft", sagte Gugutzer am Mittwoch in Frankfurt am Main. Der Gott, zu dessen Ehren dieses Fest abgehalten werde, sei jedoch kein bestimmter Fußballer und auch nicht der Sport, sondern das eigene Ich.

Der Wissenschaftler führt den Boom des "Public Viewing" auf das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit zurück. Wo sich die traditionellen Bindungen der Großgruppen - Verwandtschaft, Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft oder Kirchengemeinde - auflösten, suchten sich die Menschen neue, alternative Gemeinschaften. "Public Viewing ist eine harmlose Möglichkeit, die Identifikation mit einem Kollektiv, etwa der eigenen Nation, lustvoll, kreativ und mit Spaß zum Ausdruck zu bringen", so der Soziologe.

Die Sehnsucht nach Gemeinschaftserlebnissen speise sich aus dem Frust über die immer gleichen, auferlegten Anstrengungen des Alltags, fügte Gugutzer hinzu. "Wer die täglichen Routinen als wenig spannend erlebt, der möchte ausbrechen, sich eine Gegenwelt schaffen." An dieser "Festivalisierung der postmodernen Alltagskultur" hätten alle teil, Männer wie Frauen, Junge wie Alte, Angehörige sozialer Unter- wie Oberschichten.

epd