Tschernobyl-Hilfe schlägt Brücken nach Weißrussland
Der Hof von Familie Wesseloh in Schneverdingen am Rande der Lüneburger Heide ist ein kleines Paradies. Ein Bauernladen mit hausgemachter Wurst und Marmelade, Schweine, Ferkel und freilaufende Hühner sorgen für ländliches Idyll. Schon lange sind hier regelmäßig Kinder aus der weißrussischen Region Gomel im Sommer zu Gast. Sie kommen aus einem Landstrich, der nach der Reaktor-Katastrophe im nahe gelegenen Tschernobyl massiv verstrahlt wurde. Das war der Ausgangspunkt einer beispielhaften kirchlichen Hilfsaktion, die seit 20 Jahren Brücken schlägt.
02.06.2010
Von Dieter Sell

Am 26. April 1986 ereignete sich im Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl ein schwerer Reaktorunfall. Eine radioaktive Wolke breitete sich aus und verängstigte die Menschen in aller Welt. "Unsere Kinder durften nicht mehr im Sandkasten spielen, im See baden und bei Regen nach draußen gehen", erinnert Lars-Torsten Nolte, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft "Hilfe für Tschernobyl-Kinder" in der hannoverschen Landeskirche. "Salat und Gemüse aus unseren Gärten wurden untergepflügt, Milch wurde weggeschüttet, und die Becquerel-Werte für Lebensmittel standen täglich in der Zeitung."

Heute ist der Tschernobyl-GAU, der "größte anzunehmende Unfall" der Reaktorgeschichte, fast vergessen. Die hannoversche Initiative dagegen beweist langen Atem und empfängt in diesem Jahr bis Mitte August etwa 800 weißrussische Gäste. Es ist die bundesweit größte Ferien- und Erholungsaktion dieser Art: Kinder, Mütter und Dolmetscherinnen können sich jeweils für vier Wochen erholen und in einer unbelasteten Umwelt bei guter Ernährung ihr Immunsystem stärken. "Seit Bestehen sind mehr als 22.500 Kinder und Begleiter gekommen", erzählt Nolte.

Zeichen der Versöhnung

In der evangelischen Landeskirche ging es von Anbeginn aber nicht nur um Hilfe für strahlengeschädigte Kinder, sondern auch um ein Zeichen der Versöhnung mit einem Volk, das gewaltig unter dem NS-Regime gelitten hat. Hitler überzog Weißrussland mit 260 Konzentrationslagern und 100 Ghettos. Im Todeslager Trostenez nahe der Hauptstadt Minsk wurden nach offiziellen Angaben 206.500 Menschen vernichtet. Insgesamt legten die Nazis Hunderte Städte und Tausende Dörfer in Schutt und Asche. Ein Viertel der Bevölkerung wurde Opfer der deutschen Besatzer.

"Es gibt keine belorussische Familie, in der nicht jemand an der Front oder bei Partisanen gefallen ist oder durch das Feuer der Vergeltungskommandos erschossen und verbrannt wurde", sagt die Gomeler Journalistin Nina Slydenko. Doch mit der Kindererholung und vielen Hilfstransporten unter anderem mit medizinischen Gütern sind nach dem Eindruck von Annegret Wesseloh aus Schneverdingen über die Jahre aus Fremden Freunde geworden. "Wir besuchen uns, die Menschen wissen voneinander, da gehen ganz viele Briefe hin und her."

Die Kampagne hat sich in Niedersachsen längst zur Bürgerbewegung entwickelt, zu der nicht nur jährlich etwa 500 bis 600 Gasteltern gehören. In den Dörfern engagieren sich Kommunen, Vereine und Verbände, um für die Gastkinder ein Ferienprogramm auf die Beine zu stellen. "Es ist das ehrenamtliche Engagement vieler Menschen, mit der diese humanitäre Aktion überhaupt erst entsteht", freut sich Nolte.

Missbildungen und Totgeburten

Dass die Hilfe nach wie vor dringend nötig ist, bestätigt die weißrussische Botschaft in Berlin. Demnach wohnen mehr als 1,3 Millionen Menschen in den von der Katastrophe betroffenen Gebieten, unter ihnen fast 500.000 Kinder. Viele Menschen sind an den Folgen der Radioaktivität bereits gestorben, berichtet Nolte: "Besonders betroffen sind Säuglinge und Kinder. Es gibt vermehrt Missbildungen und Totgeburten. Und die Zahl der Erkrankungen steigt weiter an."

Deshalb soll die Hilfe durch Initiativen in Ländern wie Deutschland, Italien, Kanada und den USA weiterlaufen - auch wenn es durch den Generationenwechsel schwieriger wird, Gastfamilien zu finden. Künftig sei ein weiterer Schwerpunkt in der Hospizarbeit denkbar, blickt Nolte voraus. Wie wichtig die Kampagne aus Sicht der Menschen rund um Gomel ist, bestätigt Valiantsina Raketskaya. Die 29-Jährige kam als Dolmetscherin dazu, ist jetzt mit Wesselohs eng befreundet und studiert in Hildesheim Psychologie: "Wir sind nicht allein. Es gibt Menschen, denen es nicht egal ist, wie es uns geht - das ist ein gutes Gefühl."

Internet: www.tschernobyl-hilfe.org, www.bag-tschernobyl.net

epd