Tag zwei der Bundesrepublik Deutschland mit vakantem Spitzenamt. Die Schockstarre über den unerwarteten Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler ist den Spekulationen über seinen Nachfolger, seine Nachfolgerin gewichen. Im Hintergrund aber rumoren noch immer Erklärungen und Bewertungen von guten oder schlechten Gründen, das Amt auf historisch einmalige Art vorzeitig zu quittieren. Von Hinschmeißen, Wegwerfen und Fahnenflucht ist die Rede. Die Kommentatoren schreiben sich ihre staatstragende Empörung, aber auch Rage über so viel Geringschätzung des höchsten Amtes im Staate von der Seele. Mitunter schleicht sich gar ein ähnlich gekränkter Tonfall zwischen die Zeilen, wie er dem Abgang des Bundespräsidenten eigen war. Hier urteilen nicht nur aufmerksame Beobachter des politischen Geschehens, hier klagen auch verwaiste Bürger.
Wollen wir unseren Kaiser wiederhaben?
Ob dabei mehr Durchhaltevermögen, mehr Verantwortungsbewusstsein oder Kritikfähigkeit eingefordert wird, ob es Horst Köhler in seinem Amt an Format, Weitsicht oder schlicht an kommunikativer Kompetenz mangelte - für all diese Werte steht viel "muss" und "sollte" Pate. Fast hört man die wehmütige Strophe "Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben" als zweite Stimme durchklingen, wenn Pflicht, Würde und Ehrgefühl beschworen werden. Man beruft sich auf selbstverständliche und scheinbar unstrittige Qualitäten eines Staatsoberhauptes, die beim letzten Amtsinhaber vermisst wurden – vor allem im Abgang, mitunter und rückblickend auch im Amt.
In diesen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten aber liegt genau der Skandal des Moments. Horst Köhler fühlte sich an diesen postulierten Konsens nicht gebunden. Was immer ihn bewogen hat, mit Verweis auf die Kritik an seinen missverständlichen Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr zurückzutreten, es wog für ihn schwerer als diese unausgesprochenen Vereinbarungen. Und der Berliner Regierungsapparat, auch der Souverän des Staates, auch der überraschte Bürger auf der Straße, sie stehen plötzlich da und winken hilflos mit dem Grundgesetz.
Hier hat einer die knapp formulierte Stellenbeschreibung nicht erfüllt, sich mit seiner "Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen" und seine "Pflichten gewissenhaft [zu] erfüllen" (Amtseid des Bundespräsidenten, Artikel 56 Grundgesetz). Mehr noch, er hat sein Amt als Job verstanden, den man aus persönlichen Motiven kündigen kann. Und das erscheint das eigentlich Beunruhigende an diesem Vorgang.
Zumal dabei die Kündigung der vergangenen Woche nachhallt, die auf ähnliche Weise alte Stabilitäten ins Wanken brachte. Hessens Ministerpräsident Roland Koch, spätestens seit der ausgestandenen Spendenaffäre in den eigenen Reihen zum Betonklotz der Politik geadelt, definierte seine politische Laufbahn aus freien Stücken als endlich. Offener als Horst Köhler legt er seine persönlichen Befindlichkeiten dar: Politik ist nicht alles in meinem Leben, in anderen Büros gibt's auch schöne Schreibtische.
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Das politische Spitzenamt als eine Karriereoption unter vielen, Amtszeiten den Kurven und Weichen persönlicher Biografien unterworfen. Das war mal anders. Doch während mit Kochs Amtsverzicht das vielbeklagte "Prinzip Pattex" ("Süddeutsche Zeitung") überwunden wurde, geraten mit Köhlers Rücktritt die angenommenen "Selbsterhaltungsfunktionen der Verfassungsorgane" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung") aus dem Lot. Man beginnt sich also zu fragen, woraus sich die Loyalität zum Amt, das Ertragen von Zumutungen und privaten Opfern in exponierter Verantwortung für die Gesellschaft bisher so fraglos gespeist hatte. Ein politischer Klebstoff scheint sich aufzulösen, der zuvor unsichtbar aufgetrocknet war – jetzt bröselt's.
Außergewöhnliche Arbeitszeiten, Belastungen im Privatleben und gesundheitlicher Verschleiß werden in den Führungsetagen der Unternehmen annäherungsweise mit Geld aufgewogen - die Proportionen und Äquivalente dieser Rechnung mal dahingestellt. In politischen Ämtern wird zudem in Währungen der Macht, mit Einfluss, Titeln und medialer Präsenz vergolten. Nun scheinen uns, als Souverän und Arbeitgeber des Regierungspersonals, diese Werte wie Falschgeld um die Ohren zu fliegen. Manager betreiben Downshifting und tauschen die x-te Gehaltsprämie gegen mehr Work-Life-Balance ein. Politiker verzichten auf Amt und Würden, treten zurück und satteln um.
Er hätte weiter Präsident spielen können
Auf diesem Hintergrund erweisen sich die nachgereichten Postulate an den Bundespräsidenten a.D. nicht nur als verspätet; auch für die Zukunft kommen sie über die Kraft von Bitten und Appellen nicht hinaus. Es ist ein Paradox von Watzlawickschem Format, Haltung und Würde zu einzufordern. "Beweise Format", "Rede mit historischer Tragweite" sind willentlich nicht zu erfüllende Aufgaben. So wäre auch mit Horst Köhlers die nächsten vier Jahre fortgesetztem Dienst am Lande, allein aus Disziplin und Pflichtgefühl, niemandem gedient gewesen. Er hätte den Bundespräsidenten weiter spielen können; als er am Montag vor die Presse trat, war er schon keiner mehr. "Nun hat er sich selbst gestürzt", so das Fazit Kurt Kisters in der "Süddeutschen", ein Satz, der das ganze Paradox der Situation zum klingen bringt. Herrscher werden gestürzt – sie stürzen nicht selber, noch weniger sich selbst. Und gestürzt werden Herrscher – und Horst Köhler war keiner.
Der eigenartige Rücktritt des Horst Köhler offenbart die blanke Menschlichkeit. Nicht die gern gerühmte und am letzten Bundespräsidenten durchaus geschätzte Menschlichkeit der freundlichen Gesten, der Offenheit und Nahbarkeit. Sondern deren Kehrseite, das Scheitern an der eigenen Verletzlichkeit und am Unvermögen, mit dem Scheitern verantwortlich umzugehen. Diese Option ist vom Grundgesetz nicht vorgesehen, weder der Amtseid, noch die Wahlfristen sind darauf ausgelegt. Die derart erlebte öffentliche Erniedrigung des höchsten Amtes im Staat löst Empörung aus, aber auch so etwas wie Beschämung. Eigentlich ist die ganze Gesellschaft nicht darauf ausgelegt. Und das ist vielleicht auch schon eine der Ursachen für die jetzt ausgerufene politische Krise im Land.