Predigt in der Marktkirche Hannover, 30. Mai 2010. Es gilt das gesprochene Wort.
Liebe Gemeinde,
eine doch sehr besondere Predigtsituation ist das heute - für Sie und auch für mich. Und dann ausgerechnet der Apostel Paulus als Vorgabe! Wie viel lieber habe ich immer über die Evangelien gepredigt. Ich habe wirklich leicht geseufzt. Lassen wir uns also ein auf Paulus. In diesem Text ist er auch gar nicht ganz so dogmatisch, er zeigt sich als Mann, der noch staunen kann. Schauen wir also auf das Staunen über die Weitherzigkeit Gottes, die Unerforschlichkeit Gottes und auf unsere Aufgabe, das Gotteslob.
Wann haben Sie das letzte Mal so richtig gestaunt? Ich meine nicht einen kleinen Überraschungsmoment nach dem Motto: „Huch, wer hätte das ge-dacht?“ Sondern tiefes Staunen über das, was in einem Leben möglich ist. Staunen, stille werden, überrascht sein. Staunen wie ein Kind, das zum ersten Mal das Meer sieht oder bewundert, wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird. Uns Erwachsenen fällt solches Staunen schwer. Gern geben wir uns abgebrüht und lebenserfahren, uns kann nichts mehr überra-schen. Vielleicht hat Jesus uns deshalb auch Kinder als Vorbild gegeben beim Glauben. Denn Staunen-können und Glauben gehören offenbar zusammen. Paulus schreibt:
„O, welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkennt-nis Gottes!“ (11,32)
Lange hat er hin und her gedacht, drei volle Kapitel des Römerbriefes lang. Eine ziemlich herausfordernde Lektüre damals wie heute, weitausholende, sehr komplexe Überlegungen. Manchmal habe ich den Eindruck, solches Nachdenken über den Glauben ist uns verloren gegangen. Ja, Paulus hat gerungen. Und auch Luther. Aber wir? Wir hätten den Glauben gern klar, einleuchtend, schnell und gut erklärt. Wir haben zu wenig Zeit zum Nach-Sinnen, Denken, Grübeln auch und zum Staunen.
Der lateinamerikanische Theologe Ernesto Cardenal hat einmal gesagt: „Nun fällt es dem modernen Menschen schon schwer, allein zu sein; auf den Grund seines eigenen Ichs zu steigen, ist fast unmöglich für ihn. Sollte er aber doch einmal mit sich selbst im stillen Kämmerlein bleiben und gera-de kurz vor der Erkenntnis Gottes stehen, dann macht er das Radio oder den Fernseher an.“ Aber Sie alle haben sich heute Morgen Zeit genom-men, nach-zu-denken. Versuchen wir also, Paulus zu verstehen.
Erinnern wir uns: Jesus war Jude. Die ersten Christen hat das sehr beschäftigt: Die einen sind Juden und glauben, dass Jesus der Messias ist, der Retter, auf den das Volk Israel schon so lange wartet. Die anderen sa-gen: Das kann nicht sein, ein gekreuzigter Verbrecher! Eine Spaltung unter den Menschen jüdischen Glaubens jener Zeit also. Dann die Spannung, dass sich auch Menschen, die nicht jüdischer Herkunft sind, zu Jesus bekehren. Sie finden einen Weg zum Gott Israels über Jesus Christus. Als „Heiden“ werden sie bezeichnet von Paulus und das heißt, die Heiden sind wir! Das ist im Grunde ein guter Schutz vor Überheblichkeit: Die Heiden sind wir, nicht die anderen, irgendwelche Ungläubigen, auf die herabgesehen werden könnte.
Überraschend, wen Gott so alles zu sich kommen lässt, abseits von Gesetz und Regeln. Vor Jahren habe ich erlebt, wie in Australien lang und breit die Missionsgeschichte als Rettungsgeschichte erzählt wurde. Da stand ein Aboriginee auf und sagte: „Wollen Sie im Ernst behaupten, dass der Heilige Geist gewartet hat, bis Captain Cook australischen Boden betrat, bevor er sich unter uns zeigte?“ Das hat mich stutzig gemacht. So hatte ich noch nie gedacht. Aber der Mann hatte ja Recht: Wer will sagen, wann Gott wo wirkt. Was Glaube bedeutet für einen Menschen. Die Heiden sind wir…
Wenn nun Gott diesen Heiden, Menschen aus allen Völkern Heil zusagt, sie zu seinem Volk macht, was ist dann mit den Heilsversprechen an das Volk Israel? Gelten sie nicht mehr? Kein Wunder, dass Paulus das umtreibt, schließlich ist er Jude, bekehrt zum Christen und missioniert Heiden.
Am Ende all seines Nachdenkens kommt Paulus zu dem Schluss, dass diese ganzen Spannungen, um die es den Menschen geht, bei Gott längst aufgehoben sind. Er begreift: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehor-sam, damit er sich aller erbarme“ (11,32). Das heißt, es gibt keine Guten und Schlechten, keine Vorzeigechristen oder Glaubensversager. Das ist ei-ne Herausforderung vor allem für diejenigen, die meinen, den Glauben zu kennen, wie eine Wahrheit zu besitzen. Für diejenigen, die meinen, ihr Glaube sei irgendwie nicht gut genug, nicht ausreichend.
Alle Menschen bleiben fehlbar und werden dadurch zu Heiligen, weil sie erkennen: Allein packe ich es nicht, ich bin ganz und gar auf Gottes Gnade angewiesen! Martin Luther hat das immer wieder auf wunderbare Weise dargestellt. Etwa wenn er gesagt hat, wir alle sind Papst, weil wir alle aus der Taufe gekrochen sind. Oder wenn er erklärt, dass das Leben im Kloster kein frommeres Leben ist als das in der Familie. Da geht es um Freiheit statt um Enge, um Mut zur Kreativität statt um ängstliches Festhalten von Normen und Regeln.
Am Ende aller Überlegungen steht für Paulus diese Erkenntnis: Gott ist Einer, der Gott der Juden wie der Heiden. Gott liebt die Menschen, deshalb hat er allen einen Weg eröffnet. Aber Gott hat auch eine besondere Liebe zum Volk Israel und diese Liebe wird durch Jesus Christus nicht in Frage gestellt, nein, sie wird bestätigt! Allem Judenhass, allem Antisemitismus und Antijudaismus zum Trotz steht dieser Satz da. Gerade deshalb sollte es eine besondere Liebe der Christen zu den Juden geben, denn Jesus an den wir glauben, war und bleibt einer von ihnen.
Gott ist weitherzig! Ist das nicht wunderbar? Wo wir als Menschen manchmal so eng sind, ausgrenzend, da gibt es bei Gott Großmut, Verständnis, Fülle. Wo wir abrechnen, nachzählen, einordnen, verachten, da gibt es bei Gott Liebe, Zuwendung, Freiheit. Gerade bei dem so strengen Apostel Paulus, der sich schon Sorgen macht, wenn Frauen zu viel reden in der Gemeinde, rührt dieses Staunen über die Weitherzigkeit Gottes an. Ob er sich danach gesehnt hat, selbst so weitherzig sein zu können?
Das kennen wir doch auch von uns: „Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu!“ Eigentlich möchte ich so sein: Verzeihen, wo ich beleidigt wurde. Darüber hinwegsehen, wenn mich jemand gekränkt hat. Ich möchte die großartige Ehefrau sein, die alles vergibt. Der wunderbarste Chef aller Zeiten. Die tolle Freundin, die immer ein offenes Ohr hat. Der obertolerante Sportler, der locker darüber hinweg sieht, wenn einer im Team dauernd versagt. Eigentlich wären wir gern so. Bilder von uns selbst, die schön sind, so wie es sein könnte: liebevoll, tolerant, großmütig.
Aber dann setzt sich unsere Menschlichkeit durch. Weil niemand ein perfektes Wesen ist, nicht einmal Lena Meyer-Landrut. Ich bin eifersüchtig, obwohl ich dieses Gefühl verachte. Ich bin neidisch, auch wenn das völlig blödsinnig ist. Ich bin berechnend, auch wenn ich das für eine miese Einstellung halte. Ich bin geizig, auch wenn das überhaupt nicht geil ist.
Vielleicht staunt Paulus gerade darüber, dass Gott ganz anders ist, als seine eigenen engen Grenzen. So staunen wir ja auch über Menschen, wenn sie auf einmal anders handeln als erwartet. Wenn der Ehepartner sagt: „Ich liebe dich trotzdem!“ Wenn die Freundin einlenkt: „Verzeih mir!“ Wenn der Chef sagt: „Machen Sie sich keine Sorgen, ich steh für Sie ein.“ Wenn die Lehrerin sagt: „Ich geb dir eine zweite Chance.“ Oder im Großen: Aung Suu Kyi, die da sanftmütig bleibt und ein ganzes Militärregime, das sie seit Jahren einsperrt, vorführt. Willy Brandt, der in Polen auf die Knie ging – völlig überraschend. Menschen können anders sein, sie können Grenzen, Vorfindliches, Klischees durchbrechen. Das rührt uns dann zu Tränen. Weil es Hoffnung gibt, dass sich doch noch alles zum Guten wenden könnte. Wenn Gott so weitherzig ist, warum dann nicht wir Menschen? Das täte uns gut, im Kleinen wie im Großen. Wenn wir Menschen nicht ständig einteilen würden, die einen als Versager, die anderen als Gewinner, sondern offen dafür sind, dass Menschen ganz anders sein, sich ändern können, dass wir Menschen lieben können, auch wenn sie nicht so sind, wie wir sie gern hätten.
Paulus erkennt, dass Gott Juden wie Christen, Judenchristen wie Heiden-christen liebt, einfach weil Gott die Menschen liebt. Nicht weil sie sind, wie sie sind, sondern obwohl sie sind, wie sie sind. Und das ist in der Tat eine erstaunliche Erkenntnis!
Dabei weiß Paulus: „Gottes Gerichte sind unbegreiflich und unerforschlich seine Wege.“ (11,33)
Das Staunen über Gott kann aber nicht dazu führen, dass wir Gott nun ganz nach unserem Bilde festhalten. Gottes Wege bleiben unbegreiflich. Es ist für uns als Menschen immer wieder schwer, einen Sinn zu sehen, zu ergründen, warum so viel Leid auf der Welt existiert. Warum auch die einen zum Glauben finden und die anderen gar nicht glauben, ja auch nichts ver-missen in ihrem Leben ohne Glauben. Ja, manchmal staunen wir auch im Nachhinein, weil im Leben etwas geschehen ist, das wir nicht einordnen, nicht begreifen, das alles ins Chaos zu stürzen scheint. Ich habe da inzwischen so einige Erfahrungen gemacht – da verstehst Du einfach nicht, wie so etwas passieren kann. Und Du weißt nicht wohin die Reise gehen soll in Deinem Leben. Aber wir wissen: oft schauen wir zurück und staunen in der Tat, weil es doch Sinn gibt. Da waren Dramen und Abgründe, aber im Gan-zen war es gut. Und doch gibt es auch das völlig Unverständliche, das unbegreiflich bleibt. Leid, Gewalt, Krankheit, Tod – unbegreiflich. Entsetzlich. Verstörend.
Martin Luther hat versucht, klar zu machen, dass diese Unbegreiflichkeit Gottes von uns schlicht mit hinein genommen werden muss in unser Gottesbild. Wenn wir alles begreifen würden, hätten wir Gott in eine Vitrine gepackt, erklärt. So ist aber ist Gott nicht. Und auch unser Leben können wir so nicht einordnen. Wir haben unser Leben eben nicht „im Griff“ und wir haben Gott nicht „im Griff“. Wir können uns nur dem anvertrauen, dem, was wir von Gott erkennen. Die einzige Quelle dieser Erkenntnis ist für uns wie für Paulus Jesus Christus. Er zeigt uns Gott als liebenden Vater, als den, der uns begleiten will auch in Leid und Not. In dessen Hände wir unseren Geist auch im Sterben befehlen können. Diesen Gott kennen wir, ihm ver-trauen wir uns an. Auch wenn wir nicht verstehen, vertrauen wir auf seine Liebe. Die Bibel hat dafür wunderbare Bilder gemalt. Etwa wenn sie sagt, dass wir unter dem Schatten seiner Flügel Zuflucht finden (Psalm 26,8). Auch das meint ja nicht Enge, ein Zusammenquetschen, sondern es ist ein Bild von Geborgenheit, von Schutz in großer Weite, mit Raum zum Ent-falten, zum Sein, zum Leben.
Gottes Weisheit und Weitherzigkeit sind für uns wegweisend. Und an ihrem Urgrund liegt die Erkenntnis, dass Gott Schuld vergibt. Schuld kann vergeben werden, das ist der tiefste Urgrund christlicher Freiheit. Deshalb engagieren Kirchen sich vehement gegen die Todesstrafe: Keine Schuld kann so schwer sein, dass sie anderen das Recht gibt, das fünfte Gebot zu überschreiten: Du sollst nicht töten! Es kann einen Neuanfang geben, wenn Täter Schuld bekennen, die Opfer gehört werden und so Versöhnung möglich wird.
Und niemand muss sich das Leben nehmen, weil er Schuld auf sich gela-den hat. Wenn es aber doch jemand tut, werden wir ihn nicht verachten, sondern der Liebe Gottes anvertrauen. Im Lutherfilm 2003 wird das sehr schön deutlich, als Luther einen jungen Selbstmörder gegen alle Regeln auf dem kirchlichen Friedhof bestattet mit den Worten „Gott ist Barmherzigkeit.“
Solche Barmherzigkeit sollen auch wir üben. Das fällt uns oft nicht leicht. Vor allem wenn wir die Opfer sind. Aber oft auch, wenn wir Täter sind, weil wir uns manchmal unser Fehler und Verfehlungen selbst am wenigsten vergeben können. Aber auch da gilt die Freiheit, die Paulus entdeckt: wenn Gott vergibt, wie könnten wir dann nicht vergeben und teil haben an seiner Weitherzigkeit?
Am Ende geht bei Paulus alles Staunen und alle Erkenntnis über in das Lob Gottes: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit. Amen.“
Das Staunen über Gottes Großherzigkeit und Weite, das Erkennen der Unbegreiflichkeit Gottes, sie können nur im großen Gotteslob zusammen ge-bracht werden, findet Paulus heraus. Dieser Verstandesmensch, der oft so umständlich denkt, so eingehend ermahnt, so viele Regeln aufstellt, ver-steht, dass er niemals Gott ganz begreifen kann, sondern schlicht das eige-ne Herz öffnen muss, sich anvertrauen und Gott loben. Auch das ist Freiheit: Es nicht so eng machen mit all den Vorschriften, Regeln, Hierarchien, sondern sich schlicht freuen an Gottes Güte. „Gott loben, das ist unser Amt“, heißt es in einem Gesangbuchlied. Wir können gar nicht anders als Gott loben. Denn Gott kann alles, aber sich selbst loben kann Gott nicht. Also loben wir Gott. Auch in den tiefsten Stunden unseres Lebens, wenn wir singen: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann!“ (EG 361,1). Weil das Gotteslob größer ist als unser kleines Leben. Weil es unseren Horizont übersteigt, der immer nur in Grenzen überhaupt erkennen kann. Gott loben, auch wo vieles unbegreiflich bleibt. Uns so Gott anvertrauen, das ist die Haltung des Glaubens, die staunt über Gott.
Solche Glaubenshaltung führt zu einer Lebenshaltung, das ist mir wichtig. Weil wir wissen, wo wir geborgen sind, können wir mitten in einer Welt voller Umbrüche und Ängste mutig unseren Mann und unsere Frau stehen. Da gibt es viel zu tun. Mitten in unserer Welt antreten für Gerechtigkeit und Frieden. Das kann in kleinen Schritten geschehen in der Schule, am Ar-beitsplatz, im Miteinander: Hinschauen statt wegsehen, Aufmerken statt Wegducken. Und natürlich im Großen: Weiter Blick statt enger Horizont!
Wir sind gehalten. Und deshalb haben wir Haltung. Unsere Welt braucht Menschen, die das ausstrahlen. Und dazu, liebe Gemeinde, gehört auch ein fröhliches Herz. Griesgrämige Christenmenschen können Gott nicht lo-ben. Und sie sagen auch nichts davon weiter, dass der
laube an Gott unser Leben reich und froh macht in guten wie in schweren Zeiten. Also: lächeln bitte! Etwas erlöster und befreiter und weitherziger aussehen! Mal wieder staunen wie Paulus. Mit herunter gezogenen Mundwinkeln kannst du Gott nicht loben! Der Liederdichter Spitta hat von Glaubensheiterkeit ge-sprochen. Das meint: Uns freuen an Gottes Weitherzigkeit, wie mit den Liedern, die wir vor Beginn gesungen haben. Und deshalb weitherzig sein, barmherzig, mutig, unverzagt, glaubensfroh. Strahlen wir das von innen heraus: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit. Amen.“