Missbrauch und Jugendarbeit: "Sensibel machen"
In der Jugendarbeit die notwendige Balance aus professioneller Distanz und menschlicher Nähe zu wahren ist vor dem Hintergrund der Missbrauchsskandale nicht einfacher geworden. Die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend und ihre Mitglieder beschäftigen intensiv sich mit dem Thema. Wolfgang Piontek ist Jugendreferent in einer Gemeinde und kennt das Problem aus nächster Nähe.
28.05.2010
Die Fragen stellte Ralf Peter Reimann

evangelisch.de: In Ihrem Kirchenkreis gab es einen Fall, in dem die Presse über Ermittlungen wegen sexueller Belästigung in der Jugendarbeit berichtet hat. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Sie selbst sind Jugendreferent. Gab es auch Anfragen an Sie?

Wolfgang Piontek: Die Presse berichtete ohne Nennung des Namens, daher erhielt ich auch einige Anrufe, bei denen nach weiterer Information gefischt wurde. Bei einigen hörte ich sogar versteckt die Anfrage heraus, ob es vielleicht um meine Person in der Presse ging.

Ich kenne den Kollegen gut und war selbst schockiert, dass gegen ihn ermittelt wurde. Das Verfahren ist mittlerweise eingestellt worden, weil eine Schuld nicht ermittelt werden konnte Trotz eingestellten Verfahrens ist es für den Kollegen das Ende seiner Dienstzeit, er wird aller Voraussicht nach nicht mehr in der Jugendarbeit tätig sein können, obwohl eigentlich nichts passiert ist.

Allerdings möchte ich betonen: zum Glück reden wir über das Thema Missbrauch. Es muss für die Opfer von Missbrauch einfacher werden, dass wirkliche Täter zur Rechenschaft gezogen werden

evangelisch.de: Ist das Thema zu dominant in den Medien?

Piontek: Nein. Gerade im Hinblick für Betroffene. Erst die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas haben es möglich gemacht, dass die Opfer reden und sich von einer inneren Last befreien können. Das ist gut so. Allerdings im Hinblick auf die ganz praktische pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist die Dominanz des Themas nicht zuträglich, Verallgemeinerungen in den Medien unterstützen unsere Arbeit nicht.

"Früher war es einfacher, Nähe zu zeigen"

 

evangelisch.de: Schwingt bei Ihnen die Angst mit, aufgrund Ihrer Arbeit selbst wegen sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden zu können?

Piontek: In der evangelischen Jugendarbeit geht es auch um Beziehungsarbeit. Wenn wir mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, kann es zu Situationen kommen, die einen angreifbar machen. Daher schweben immer auch Ängste mit, dass etwas gegen einen verwendet werden kann. Allerdings gilt: man kann sich nur selber schützen, ich muss mich immer hinterfragen, wie ich auf andere wirke und welche Reaktionen es geben kann.

evangelisch.de: Was heißt das konkret?

Piontek: Ein Beispiel: Pädagogische Gespräche mit einzelnen Jugendlichen führe ich nicht mehr alleine. Wenn ein Teilnehmender auf einer Freizeit gegen Regeln verstoßen hat, hole ich mir eine zweite Person, um mit dem Jugendlichen zu sprechen. Was früher unter vier Augen ging, geht nun so nicht mehr. Für den Jugendlichen kann es natürlich bedeuten, dass er sich nun in die Zange genommen fühlt, wenn zwei Erwachsene ihn wegen seines Fehlverhaltens ansprechen.

evangelisch.de: Was hat sich verändert durch die Diskussion in den Medien?

Piontek: Früher war es selbstverständlich, Jugendliche nach einem Treffen noch nach Hause zu bringen. Das mache ich heute nicht mehr. Außerdem vermeide ich – so gut es geht – Körperkontakt. Dies hat aber auch mit meinem Lebensalter zu tun. Ende Zwanzig war es für mich als Hauptamtlicher viel einfacher, Jugendlichen in Arm zu nehmen, es wurde damals nicht hinterfragt. Täte ich dies nun mit Mitte Fünfzig, könnte dies nur missgedeutet werden. Nähe und Distanz in der Jugendarbeit müssen neu austariert werden.

Früher war es einfacher, Nähe zu zeigen, als es heute ist. In unserer Arbeit brauchen wir Nähe und Distanz. Wenn eines fehlt, haben wir nur noch Distanz. Deswegen muss Nähe zu Jugendlichen auch heute noch möglich sein, allerdings müssen wir das professionell verantworten können. Distanz wahren und doch menschliche Nähe ermöglichen ist heute eine Gratwanderung.

"Mir ist wichtig, dass wir agieren und nicht reagieren"

 

evangelisch.de: Welche Folgerungen ziehen Sie daraus?

Piontek: Als Hauptamtlicher habe ich das Rüstzeug, professionell an dieses Thema ranzugehen und mich und mein Verhalten zu analysieren und zu hinterfragen. Ein Großteil der Jugendarbeit geschieht aber ehrenamtlich. Gerade für diese ehrenamtlichen Mitarbeitenden tragen wir Hauptamtlichen eine Verantwortung. Hier geht es mir darum, sensibel zu machen und Fortbildungen anzubieten. Ich versuche, in Schulungen den Ehrenamtlichen klar zu machen, dass auch sie auf einer Gratwanderung sind. Außerdem gebe ich ihnen Verhaltensregeln mit, zum Beispiel auf Freizeiten nie alleine in ein Zimmer zu gehen und Gespräche immer zu zweit zu führen. Solche einfachen Regeln dienen dem Schutz, dem der ehrenamtlichen Mitarbeitenden und natürlich dem der Kinder und Jugendlichen. Sensibel machen ist hier das Schlüsselwort für mich – und das geht nur durch Schulungen.

evangelisch.de: Was wünschen Sie sich von Gremien?

Piontek: Ich selbst bin im Weiterbildungsausschuss der aej. Natürlich haben wir uns auch mit dem Thema Missbrauch beschäftigt. Dabei haben wir eine Selbstverpflichtungserklärung erarbeitet. Sie ist quasi eine Ergänzung beziehungsweise ein Ersatz zum erweiterten polizeilichen Führungszeugnis. Bewusstsein zu schaffen und sensibel zu machen ist der richtige Weg. Mir ist wichtig, dass wir agieren und nicht reagieren.


 

Wolfgang Piontek ist seit 1982 Jugendreferent in der evangelischen Kirchengemeinde Speldorf und in der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands, verheiratet und hat ein Kind.