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Foto: imago/Michael Schick
Schluss mit dem Fanatismus: Religion als Friedensstifter
An Gewalt aus religiösen Gründen haben wir uns gewöhnt. Dabei sind alle bedeutenden Religionen dem Frieden verpflichtet - und verfügen zudem über Ressourcen, die Frieden stiften können. Wie? Markus Weingardt hat ermutigende Beispiele zusammengetragen.

Konkurrierende Wahrheitsansprüche, rivalisierende Konfessionen, fanatische Religionsvertreter: Sie prägen das Bild. Für manche sind Religionen die großen "Brandstifter" der Weltgeschichte. Selbstmordattentäter, die ihr grauenvolles Tun religiös begründen, Fundamentalisten, die meinen, im Namen Gottes sei Gewalt zu rechtfertigen, und Kriegstreiber mit Kreuzzugmentalität sind uns beinahe zur traurigen Selbstverständlichkeit geworden.

Auf höchster politischer Ebene

Vergessen und kaum beachtet von Öffentlichkeit, Politik und Forschung wird dabei die Tatsache, dass Religionsgemeinschaften über Ressourcen verfügen und diese auch nutzen, um Frieden zu stiften – und dies auf höchster politischer Ebene, in Kriegen und Bürgerkriegen, im Widerstand gegen brutale Unterdrücker. Einige Beispiele:

  • Nach jahrzehntelangen Scharmützeln verhinderte Papst Johannes Paul II. 1978 in buchstäblich letzter Sekunde einen blutigen Krieg zwischen Chile und Argentinien und arbeitete sechs Jahre lang am letztlich erfolgreichen Abschluss eines "Friedens- und Freundschaftsvertrages".
     
  • Nach der Schreckensherrschaft von Pol Pot und den Roten Khmer in Kambodscha, der rund ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer gefallen war, begann der buddhistische Mönch Maha Ghosananda 1979 eine Friedens- und Versöhnungsbewegung, die sich zu einer unüberhörbaren Stimme in Politik und Gesellschaft entwickelt hat.

Gewaltlose "Diener Gottes"

  • Im britisch besetzten Indien zur Zeit Gandhis war es der Moslem Khan Abdul Ghaffar Khan, der in der Nordwest-Grenzprovinz eine streng islamische, doch ebenso streng gewaltlose und religiös tolerante Widerstandsbewegung aufbaute, die "Diener Gottes". Für einige Jahre gelang eine gesellschaftliche Transformation, die Gandhi staunend als "modernes Märchen" bezeichnete.
     
  • Die Überwindung der Diktatur von Ferdinand Marcos auf den Philippinen war 1986 in erster Linie dem Engagement weiter Teile der katholischen Kirche zu verdanken. Vor allem Ordensleute und Priester in den Basisgemeinden überzeugten das Volk von einem gewaltlosen Vorgehen und legten den Grundstein für den Erfolg der "Rosenkranz-Revolution".
     
  • Schon im indisch-pakistanischen Grenzkonflikt in Kaschmir (1965/66) und im blutigen Bürgerkrieg in der nigerianischen Provinz Biafra (1967 bis 70) waren Vertreter der Quäker vermittelnd aktiv und sind dies bis heute in zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen – jedoch ganz bewusst hinter den Kulissen, abseits der medialen Aufmerksamkeit, in größter Diskretion.

Friedensabkommen vermittelt

  • In Nicaragua, El Salvador, Guatemala und anderen lateinamerikanischen Staaten waren (besonders in den 80er- und 90er-Jahren) einzelne katholische Bischöfe, aber auch der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) und der Lutherische Weltbund in vielfältiger und entscheidender Weise an der Überwindung von Gewaltkonflikten beteiligt.
     
  • Im Irak sprach der schiitische Großajatollah Ali Al-Sistani Fatwas (religiöse Gutachten) gegen die Anwendung von Gewalt aus, egal von wem und gegen wen sie angewandt wurde. Durch seine Intervention konnten im Jahr 2004 die wochenlangen Kämpfe US-geführter Truppen gegen die islamistische Mahdi-Armee in Nadschaf beendet und eine Erstürmung der bedeutenden Imam-Ali-Moschee abgewendet werden.
     
  • 1972 vermittelte der ÖRK ein Friedensabkommen zwischen den Bürgerkriegsparteien im Sudan, das immerhin elf Jahre Bestand hatte. Auch heute noch sind vor allem protestantische Kirchen wichtige Motoren einer Verständigung sowohl zwischen Moslems und Christen als auch zwischen verschiedenen Stämmen im Südsudan.

Keine "Wende" ohne Evangelische Kirche

  • Die "Wende" in der ehemaligen DDR wäre ohne die aktive Mitwirkung der Evangelischen Kirche kaum so friedlich verlaufen: Kirche als Plattform für oppositionelle Menschen und Gruppen, Kirchenvertreter in der Vermittlung zwischen Volk und Staatsgewalt sowie bei der aktiven Gestaltung des Wandels an den zahlreichen "Runden Tischen".
     
  • In Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Liberia und in Sierra Leone trugen nationale "Interreligiöse Räte", initiiert zumeist von der Weltkonferenz der Religionen für Frieden (WCRP), in herausragender Weise zur friedlichen Bearbeitung von politischen Konflikten bei.
     
  • Während des Genozids in Ruanda (1994), dem etwa eine Million Menschen zum Opfer fiel, verweigerte sich nur eine Bevölkerungsgruppe dem Gemetzel: die ruandischen Muslime. Sie leisteten Schutz und Nothilfe für Flüchtlinge, ungeachtet ihrer Stammes- oder Religionszugehörigkeit.

Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft

Was an solcher Friedensarbeit geleistet wurde und wird – ohne Zwang und Gewalt, allein mit der Kraft der Überzeugung, Vermittlungsgeschick und langem Atem, der sich aus religiöser Überzeugung speist –, das lässt nur einen Schluss zu: Religionen haben ein immenses Friedenspotenzial! Sie verfügen über Kompetenzen und erfüllen spezifische Voraussetzungen, die ihnen Türen und Handlungsspielräume eröffnen, die anderen Vermittlern oftmals verschlossen bleiben.

Dieses Potenzial ist zugleich aber eine Verpflichtung, und es ist noch lange nicht ausgeschöpft. Wer den (theologischen) Anspruch hat, Frieden zu stiften, der darf seine "Pfunde" nicht vergraben. Er muss sie heben, weiterentwickeln und aktiv einbringen. Der Frieden braucht jede Hand und jede Stimme. Die Religionsgemeinschaften haben viele Hände und kräftige Stimmen – sie müssen viel häufiger erhoben werden.


Dieser Artikel erschien erstmals am 27. Mai 2010 auf evangelisch.de.