Die Geschichte des Gesangbuches beginnt mit der Reformation. Tatsächlich sind sie eine Erfindung des Protestantismus. Denn Jahrhunderte zuvor war der Gemeindegesang in den Kirchen quasi ausgefallen. Die ersten Christen in der Jerusalemer Ur-Gemeinde waren zwar noch sangesfreudig, so wie sie es aus den Synagogengottesdiensten kannten. Forscher gehen davon aus, dass sich einige Liedtexte aus alter Zeit sogar im Neuen Testament verstecken. Der so genannte "Philipper-Hymnus" im Philipperbrief 2,6-11 könnte so ein Text sein.
Aber im Laufe der ersten Jahrhunderte wurde der Gesang in den Gottesdiensten immer stärker vom Klerus, von den kirchlichen Offiziellen übernommen. Der Gemeinde blieb es nur noch übrig, im Rahmen von liturgischen Gesängen auf das zu antworten, was der Priester oder die "Schola", der vortragende Chor, angesungen hatte. Erst die Reformation Anfang des 16. Jahrhunderts änderte daran wieder etwas.
Zeitgenössische Gassenhauer
Martin Luther und Co. war es wichtig, das Kirchenvolk als Subjekt des Gottesdienstes anzuerkennen. Nicht die Kleriker sollten Gottesdienst feiern, und die Laien gucken zu, sondern: Die Gemeinde selbst ist es, die Gott lobt und feiert, es gibt keine Höherwertigkeit geweihter Priester mehr. Ältere Christen können sich vielleicht noch daran erinnern, dass Besucher sich bis in die 1960er Jahre hinein in katholischen Gottesdiensten eher wie Zuschauer fühlten, denn als Handelnde. Und bis heute ist in einer katholischen Messe, in deren Mittelpunkt die Eucharistiefeier steht, die Beteiligung von Laien geringer ausgeprägt als in evangelischen Gottesdiensten.
Erst die Reformation, die die Beteiligung der "Laien" am Gottesdienst in den Blick nahm, brachte nämlich geistliche Lieder hervor, die vom Kirchenvolk gesungen werden sollten. Die Gemeinde wurde damit selbst zum Träger des Gottesdienstes, sie waren plötzlich nicht mehr nur Zuschauer. Luther selbst schrieb zahlreiche Lieder, teilweise auf die Melodien der zeitgenössischen Gassenhauer.
Katholische Kirche bedient sich bei Luther
Manche von ihnen wurden gedruckt, bald wurden die ersten Sammlungen auch gebunden herausgegeben. Obwohl bereits 1501 von den Böhmischen Brüdern, einer geistlichen Erweckungsbewegung, eine Sammlung volkssprachlicher Lieder herausgegeben wurde, zählt ein anderes als die "Mutter aller Gesangbücher": Das "Achtliederbuch" von 1524, in dem insgesamt acht Lieder zu fünf verschiedenen Melodien auf zwölf Seiten zusammengetragen sind. Sie stammen von Martin Luther, Paul Speratus und einem anonymen Autor; das erste Lied ist Luthers "Nun freut euch, lieben Christen gmein", das im heutigen Evangelischen Gesangbuch (EG) unter der Nummer 341 immer noch zu finden ist.
Seit der Reformation wurden unzählige neue Gesangbücher herausgegeben, auch von der katholischen Kirche: Schon 1537 zog die römische Kirche nach und veröffentlichte ein Gemeindegesangbuch, das zum Teil auf bearbeiteten Luther-Liedern beruhte. Aber auch die anderen sich entwickelnden Konfessionen gaben ihre eigenen Gesangbücher heraus. Durch den jungen Buchdruck war es möglich, die Bücher in großer Zahl verhältnismäßig kostengünstig zu produzieren.
Ein bunter Strauß an Texten
Schon bald wurde es üblich, auch Gebete und Bekenntnisse in die Gesangbücher aufzunehmen. Selbst Anleitungen zum privaten Gebet und zur häuslichen Andacht fanden bald ihren Platz. Luther hatte erkannt, dass sich über Gesangbücher auch theologische Lehren verbreiten und verfestigen lassen. "Der Sohn dem Vater g’horsam ward / Er kam zu mir auf Erden / Von einer Jungfrau rein und zart / Er sollt’ mein Bruder werden", heißt es in einer Strophe von "Nun freut euch, liebe Christen gmein". Protestantische Theologie verfestigte sich in Kopf und Herz der Gemeindeglieder durch das Singen.
In unseren Gesangbüchern stehen heute nicht nur Lieder zu allen möglichen Anlässen, Themen, biblischen Bezügen und Zeiten im Kirchenjahr. Sie enthalten auch Gottesdienstordnungen, Andachtsformulare, die liturgischen Gesänge der Tagzeitengebete und die Struktur von Taizé-Gottesdiensten; außerdem sind Gebete für morgens, mittags, abends abgedruckt, für den Beginn einer Reise und das Ende einer Schwangerschaft. Das apostolische Glaubensbekenntnis lässt sich finden, daneben aber auch weitere Bekenntnistexte wie die der kleine Katechismus Martin Luthers (von 1529), das Augsburger Bekenntnis (1530), der Heidelberger Katechismus (1563), die Barmer Theologische Erklärung (1934) und die Leuenberger Konkordie (1973). Ausgewählte Psalmen runden das Angebot zusammen mit liedkundlichen Informationen über die einzelnen Dichter ab.
Quintessenz des christlichen Glaubens
Man sieht: Es handelt sich in gewisser Weise um Quintessenzen des gelebten christlichen Glaubens aus mehreren Jahrhunderten. Der Inhalt war vielen Christen in Bedrängnis so wichtig, dass sie ihr Gesangbuch auch bei Flucht und Vertreibung mitnahmen. In der Ausstellung sieht man neben gut erhaltenen, aufwändig geschmückten Exemplaren auch schlichte Ausgaben, die augenscheinlich schon einiges mitgemacht haben. Es sind die Bücher, die von ihren Besitzern auf Flucht vor Vertreibung mitgenommen wurden. Eine Bibel wäre ihnen zu schwer gewesen. Und vielleicht inhaltlich auch nicht vielfältig genug. Mit dem Gesangbuch aber hatten sie viele wichtige Stücke ihres Glaubens mit im Gepäck.
Unser heutiges "Evangelisches Gesangbuch" (EG), auch das verrät die Ausstellung, wurde übrigens erst 1994 eingeführt, nach 15-jährigen Beratungen über die Neugestaltung des Vorgängers, dem "Evangelischen Kirchengesangbuch" (EKG). Es ist also beileibe kein Relikt alter Zeiten, das mit der Gegenwart nichts zu tun hat. Neben einem alten, ehrwürdigen Kern (Lieder von Martin Luther, Paul Gerhardt, Nikolaus von Zinzendorf und anderen Klassikern des Protestantismus) sind auch viele junge Lieder zu entdecken, die von Swing, Jazz und Gospel geprägt sind.
Jede Neuausgabe des Gesangbuches ist wie die Pflege eines sehr, sehr alten Baumes: Es geht darum, "den alten, über Jahrhunderte gewachsenen Stamm an Liedern zu pflegen, zu beschneiden und regelmäßig durch Neues zu ergänzen." Und immer auch den Ton der Zeit zu treffen, wenn eine neue Ausgabe geplant wird. Etwa alle 40 Jahre erscheint eine neue Überarbeitung, in die dann zum Beispiel Lieder einfließen, die sich auf den Kirchentagen durchgesetzt haben. Welche das um das Jahr 2034 sein werden, wenn vielleicht die nächste Neuausgabe erscheinen wird, kann man heute noch nicht sagen.
Die beliebtesten Lieder
Eine Umfrage, die für die Ausstellung durchgeführt wurde, zeigt aber, welche Gesangbuch-Lieder heute am beliebtesten sind: Für die Gruppe der 10-20-Jährigen ist es "Laudato Si" (Nummer 515), die 21-30-Jährigen finden "Danke für diesen guten Morgen" spitze (Nummer 334). Nach ansteigenden Altersgruppen sortiert lauten die weiteren Favoriten: "Herr, deine Liebe ist wie Gras am Ufer" (653), "Bewahre uns Gott" (171), "Von guten Mächten treu und still umgeben" (65), "Es ist ein Ros' entsprungen" (30) und Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" (317).
Neben den Liedern im Gesangbuch spielt am Ende auch ein Lied über das Gesangbuch eine Rolle in der Ausstellung. Es preist den Trost, den es seinem Besitzer in trüben Zeiten gegeben hat. Die Mundart-Zeilen sagen vielleicht mehr über den Wert dieses heimlichen Schatzkästleins, als alle anderen Beschreibungen: "Ich will's euch nit verhehle – 's fangt aa', mit mir zu verzehle, un bericht' mir voller Glück, aus längscht vergang'ner Zeit zurück, tut mir im Vertraue sage, dass es in gute wie in schlechte Tage, in glückliche un trüwe Stunne, sein Besitzer in die Hand genumme, hat Troscht g'funne beim richtiche Lied, unnerstriche, dass mer's heit noch sieht, dann hat er mich vor sich hi'gelegt, un still un innig aus mir gebet."
Ausstellung auf Wanderschaft
Bis zum 29. Oktober ist die Ausstellung im Zentralarchiv der pfälzischen Landeskirche in Speyer am Domplatz 6 zu besuchen. Anschließend soll sie auf Wanderschaft gehen. Interessierte Gemeinden können für Kosten ab 130 Euro alle Bild- und Texttafeln ausleihen und in eigenen Räumlichkeiten aufhängen. Die ausgestellten Gesangbuch-Exponate werden nicht verliehen, jedoch stellt das auch eine Chance dar: Gemeinden können sich einige Wochen lang auf verschiedenen Ebenen dem Thema "Gesangbuch" widmen. Neben der Ausstellung gäbe es passende Gottesdienste mit Liedpredigten, und die Senioren haben vielleicht ganz eigene Geschichten zu den Exemplaren zu erzählen, die sie für die Ausstellung zur Verfügung stellen.
Übrigens: Das Zentralarchiv hat noch eine Reihe weiterer Ausstellungen im Angebot. Die beiden zum Thema "Engel" sind besonders gefragt, aber auch "Paradiesvorstellungen" oder schlicht "Zeit" gibt es zu sehen - und auszuleihen.
Ingo Schütz ist angehender Pfarrer und mochte Gesangbücher auch schon vor dem Besuch der Ausstellung. Jetzt liebt er sie von Herzen.