Eine unglaubliche Reise in die Filmwelt
Wer sagt denn, dass sich aufregendes Kino nur in Berlin, Cannes und Venedig abspielt? Das KinoKabaret macht es in Städten auf der ganzen Welt möglich, gemeinsam in nur 48 Stunden einen richtigen Film zu drehen. Alle können daran teilnehmen, selbst wenn sie noch nie Regie geführt haben. An diesem Wochenende ist es in Hamburg wieder soweit.
26.05.2010
Von Joachim Wehnelt

"Wir machen in 48 Stunden Filme – mit einfachen Mitteln und viel Spaß", ruft Lukas in die Runde im großen Saal des Hamburger Kulturhauses "III&70". Sein Geld verdient er als Paketfahrer. Aber seit 2003 organisiert er in Hamburg KinoKabarets – dort werden selbst gedrehte Filme zum Ereignis.

Ab diesem Wochenende ist es wieder soweit: Vom 28. Mai bis 5. Juni entstehen alle 48 Stunden Kurzfilme von Leuten, die nie welche gemacht haben oder schon oft dabei waren. Erfunden in Montreal, finden KinoKabarets inzwischen in 50 Städten der Welt regelmäßig statt. Lukas: "Jeder kann dabei sein." Okay. Hier bin ich.

Es ist Donnerstagabend, Ende Januar. Im ersten Stock beleuchten Scheinwerfer den Saal. Nichts deutet darauf hin, dass hier in den folgenden zwei Tagen eine Koks-Orgie stattfinden wird und 16 Filme entstehen. Fast 40 Leute sitzen auf der Bühne vor einer blauen Couch und schmieden Pläne dafür. Ein Mikro wird herumgereicht, jeder stellt sich vor.

Leon aus Hamburg kann schneiden. Gizmo ist mit zwei Freunden aus Paris angereist und weiß noch nicht, was er machen will. "But I have a camera", sagt er. Das Mikro ist bei mir gelandet. Ich sei Ideengeber und Schauspieler, höre ich mich sagen. Kurz vor Mitternacht leert sich der Saal. Alle arbeiten an einem Projekt. Ohne mich. Offenbar musste keiner für seinen Film einen grauhaarigen Mann besetzen. Was ist denn hier los? Machen hier denn alle, was sie wollen, haben einfach gute Ideen – außer mir?

Keine Kamera, keine Ahnung

Moment mal: Ich habe keine Kamera, keinen Schnittplatz und keine Ahnung. Reicht das? Aber angeblich unterstützen sich doch alle gegenseitig – mit Kameras und Ideen, Laptops und Schnittplätzen, egal, ob sie aus Dresden oder Paris, Hamburg oder Berlin gekommen sind. Am nächsten Morgen, Freitag kurz nach 5 Uhr, wache ich unruhig auf. Ich will Dramen, Siege, Leidenschaften. Ich will großes Kino.

Eine kleine Darstellerin hätte ich immerhin schon. Mein Freund Hans hatte erzählt, dass seine neunjährige Tochter Isabella bestimmt gerne beim KinoKabaret mitmachen würde. Einen Kinderfilm drehen? Ich schaue aus dem Fenster. Wie wäre es mit einem Film über Kindheitserinnerungen? Erzählt von Leuten, die im "Haus III&70" umherschwirren?

"Ich schneide deinen Film"

Ich lege meine derzeitige Lieblingsmusik auf, die Cello-Suite Nr.1 von Bach, gespielt von Jacqueline du Pré. Göttliche Filmmusik. Das Stück dauert 2 Minuten und 37 Sekunden. So lang darf also mein Film dauern. Fragt sich nur, wer ihn dreht und schneidet.

Halb elf, das "III&70" füllt sich. Gizmo aus Paris kommt in den Saal. Ob er jemanden weiß ...? "Ich könnte die Kamera machen", sagt er. Und hatte Leon gestern nicht gesagt, er könne …? Der nickt. "Ich schneide deinen Film." Es ist unglaublich. Das ist KinoKabaret. Jetzt brauche ich nur noch fünf junge Menschen und eine alte Dame, die ihre Lieblingserinnerung aus der Kindheit erzählen, dazu einen Dreh mit der neunjährigen Isabella, die das Kind spielt, und zwar bis morgen Vormittag, sonst haben wir keine Zeit mehr zum Schneiden.

378 Sekunden Magie: KinoKabaret-Film "Vendelsaga" von Sergey Vasiliev
und Vendela Strömbeck

Das Wunder geschieht. Wir bitten jeden vor die Kamera, der nicht schnell genug verschwinden kann, und alle erzählen von ihrer Lieblingserinnerung: Sophia liebte es, aus ihrem Fenster einen Eimer Wasser auf Passanten zu kippen. Tillmann stellte am liebsten seine Matchbox-Autos hintereinander auf und spielte Stau.

Frau Hain finden wir in einem Altenheim nahe der Roten Flora. Die 84-Jährige sitzt im Foyer auf einem Sofa und macht sofort mit. "Ich habe am liebsten Tau gesprungen und Fußball gespielt", erzählt die gebürtige Eimsbüttelerin vor der Kamera. Am Schluss des Films setzt sich Isabella zu ihr auf die Couch. Die Dame lächelt Isabella an und legt einen Arm um das Mädchen, das sie selbst einmal war.

"... wie cool das ist"

Der Saal füllt sich. Es ist Samstagabend. Alle Filme werden vorgeführt. Unserer auch. Wir haben tatsächlich noch einen Laptop zum Schneiden bekommen, an dem Leon meisterhaft die Szenen aneinanderreihte. Auf der Bühne ist keine Spur mehr von der Koksparty zu sehen, die Semih für seinen Film inszenierte. "Ich habe bloß noch so viel Zucker in der Nase", sagt Suse aus Dresden.

Am Schluss tanzen wir auf der Bühne. Die Zuschauer schauen zu. Es ist wahr, was 48 Stunden zuvor auf der Leinwand stand: Selber machen ist besser als darüber nachdenken. "Wenn noch mehr ahnen würden, wie cool das ist, würden dreimal so viele mitmachen", sagt Lukas.


Joachim Wehnelt ist freier Journalist in Hamburg. Weitere Infos zum Thema: www.hamburgerkino.de.