"Stille Post", 26. Mai, 20.15 Uhr im Ersten
"Stille Post" ist ein schöner Titel, keine Frage, aber im Grunde wird er der Geschichte nicht gerecht. Und das keineswegs nur, weil der solchermaßen beschriebene Vorgang bloß wenige Handlungsminuten in Anspruch nimmt: Aus einem ohnehin schon frei erfundenen Beischlaf wird dank der ganz speziellen Mundpropaganda eine regelrechte Orgie. Ungleich interessanter sind ohnehin die Folgen der maßlosen Übertreibung. Der Film selbst nimmt sich allerdings viel mehr Zeit für die Vorgeschichte und ist deshalb alles andere als ein spekulatives Werk. Vordergründig erzählt Thomas Oliver Walendy, wie sich ein 16jähriger Schüler in seine Lehrerin verliebt; aber eigentlich ist "Stille Post" ein Ehedrama. Und selbst diese Bezeichnung wird der Geschichte nur unvollkommen gerecht, denn das Ende besagter Ehe spielt sich beinahe außerhalb des Erzählrahmens ab.
Mit Ursula Karven und Sergej Moya
Der Charakter des Films lässt sich sowieso am besten durch all das beschreiben, was er nicht ist, und das ist durchaus ein Qualitätsmerkmal, weil sich Buch und Regie allen Erwartungen entziehen. Das beginnt schon mit der Einseitigkeit der Gefühle: Es steht zwar außer Frage, dass Andrea Jahn große Sympathie für den aufmüpfigen Niklas hegt, aber falls ihr sein hartnäckiges Werben mehr als bloß schmeicheln sollte, so lässt sie sich das zumindest nicht anmerken; eine darstellerische Herausforderung, die Ursula Karven unter der Regie von Matthias Tiefenbacher bemerkenswert gut löst. Mit Sergej Moya hat sie allerdings auch einen Partner, der nahtlos an eine eindringliche Leistung anknüpft, die er zu Beginn des Jahres in einem "Tatort" aus Saarbrücken ("Hilflos") gezeigt hat. Auch Moya (in Wirklichkeit bereits 22 Jahre alt) muss eine Gratwanderung spielen, denn aus Sicht der Lehrerin entwickelt sich der freundliche, gut aussehende junge Mann mehr und mehr zu einer Bedrohung, die Walendy geschickt immer stärker zuspitzt. Das funktioniert, da die Lehrerin ein sehr offener Typ ist, und auch hier bedient sich Walendy eines ganz einfachen, aber wirkungsvollen Tricks: indem er ihr einen Kollegen (Oliver Breite) zur Seite stellt, der das genaue Gegenteil verkörpert.
Im Zentrum eines absurden Medieninteresses
Andrea Jahn setzt Niklas zwar klare Grenzen, aber was sind schon Grenzen, wenn man 16 und verliebt ist. Als er sie auf charmante Weise zu einem Rendezvous nötigen will, das allerdings nie stattfinden wird, taucht auf dem Hausboot seines Vaters plötzlich seine Freundin (Isolda Dychauk) auf. Das zutiefst gekränkte Mädchen erzählt, Niklas habe mit der Lehrerin geschlafen. Als das Kollegium kurz drauf per E-Mail ein Foto erhält, dass Lehrerin und Schüler in unbekleideter inniger Umarmung zeigt, steht die Lübecker Schule prompt im Zentrum eines absurden Medieninteresses. Der Skandal gibt der ohnehin heftig kriselnden Beziehung zwischen Andrea und ihrem nur noch auf die eigene Karriere fixierten Gatten (Axel Milberg) den Rest.
Holly Fink hat die Aufnahmen überwiegend mit Handkamera gedreht, so dass man auch als Zuschauer ständig mittendrin im Geschehen ist. Nach einem wahrlich spektakulären Auftakt, als Fink ein Skateboard-Rennen quer durch die Schule mit furiosen Bildern einfängt, reduziert Tiefenbacher die Erzählweise allerdings auf ein angemessenes Tempo; die Intensität dagegen nimmt dank der ausgezeichnet geführten Darsteller sogar eher noch zu.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).