Missbrauchsdebatte: Sternstunde des Journalismus
Die Missbrauchsdebatte zeigt, wofür es guten Journalismus braucht, findet der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen: als unabhängige Instanz, die das Skandalöse auch skandalisiert. Im Interview mit evangelisch.de spricht er über die "Sternstunde des Aufklärungsjournalismus" und beschreibt, wie Medienkritik als Täterschutz benutzt wird.
24.05.2010
Die Fragen stellte Henrik Schmitz

Missbrauchsopfer und Verbände von Missbrauchsopfern haben sich zuletzt – unter anderem auf dem Kirchentag – sehr positiv über die Medienberichterstattung zum Thema Missbrauch geäußert. Würden Sie auch ein Lob aussprechen?

Bernhard Pörksen: Unbedingt. Ohne die Medien als Taktgeber der Aufklärung, ohne die journalistische Skandalisierung des tatsächlich Skandalösen hätte es den eigentlichen Skandal so gar nicht gegeben. Es brauchte gleichermaßen sensibel und unerschrocken vorgehende Journalisten, um den letzten Schritt hin zu einer breiten Debatte und einer öffentlichen Aufarbeitung des Themas zu schaffen. Gerade die Qualitätsmedien des Landes haben sehr behutsam und umsichtig agiert. Und es sind, wenn man das in diesem traurigen Zusammenhang überhaupt sagen kann, großartige Dokumente des Aufklärungsjournalismus entstanden.

Welche "Taktgeber" sehen Sie noch?

Pörksen: Voraussetzung war natürlich auch, dass es mutige Opfer gab, die nicht länger schweigen wollen – und couragierte Aufklärer innerhalb der jeweiligen Einrichtungen. Denken Sie nur an Pater Klaus Mertes vom Canisiuskolleg oder an Margarita Kaufmann von der Odenwaldschule. Sie haben ihre persönliche Moral letztlich höher bewertet als irgendeine falsch verstandene institutionelle Loyalität.

Es gab auch Stimmen, etwa die von Antje Vollmer, die die Missbrauchsberichterstattung kritisiert haben. Antje Vollmer sprach im Zusammenhang mit einem Artikel sogar von einem „Missbrauch von Missbrauchsdebatten“.

Pörksen; Die Stellungnahme von Antje Vollmer war und ist, um es sehr vorsichtig zu formulieren, befremdlich – dies vor allem deshalb, weil sie nach Recherchen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung Sonntagszeitung“ schon sehr früh von den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule hätte wissen können – und dann aber 2010 als unabhängige Autorität und Leiterin einer möglichen Untersuchungskommission ins Spiel gebracht wurde.

Können Sie das konkret am Beispiel benennen?

Pörksen: Bereits 2002 hatte ein Lehrer ihr Büro informiert und sie um Unterstützung gebeten. Das von Antje Vollmer insbesondere angegriffene Porträt von Tanjev Schultz über den Pädagogen Hartmut von Hentig ist alles andere als ein Beleg für journalistische Inhumanität, wie Vollmer meint. Es handelt sich um eine selbstkritische, kluge und aufklärerische Auseinandersetzung mit dem eigenen Idol Hartmut von Hentig, der als Lebensgefährte eines Täters und gleichzeitig als zu Recht bewunderter Poet moderner Pädagogik befragt wird. Es ist ein Text aus aktuellem Anlass, aber doch von archetypischer Aktualität: Der Reporter reflektiert seine eigene Neigung zur Verdrängung, er ringt mit sich, er zögert, alles aufzuschreiben – und entscheidet sich dann doch dafür, die merkwürdigen Einlassungen, die Rechtfertigungen und Täter-Opfer-Verschiebungen, die in diesem Gespräch offenbar werden, zu notieren.

Unabhängige Instanz

Was macht diesen Text für Sie zu einem Muster eines guten Journalismus?

Pörksen: Gerade diese Arbeit aus der „Süddeutschen Zeitung“, die – noch Tage vor dem Geständnis des Täters erschien und stets die Unschuldsvermutung betont – zeigt, warum diese Gesellschaft guten Journalismus so dringend braucht: als eine unabhängige Instanz, die das tatsächlich Skandalöse auch skandalisiert.

Kommt es häufiger vor, dass mit Medienschelte vom eigentlichen Skandal abgelenkt werden soll?

Pörksen: Absolut. Sie können gerade im Falle der Odenwaldschule, aber teilweise auch im Falle der katholischen Kirche zeigen: Eine pauschale, oft mit Verdächtigungen arbeitende Medienschelte ist eine erprobte Strategie, um vom eigentlichen Thema abzulenken und Deutungshoheit wieder zu gewinnen. Schärfer formuliert: In der aktuellen Missbrauchsdebatte hatte die Medienkritik ganz klar die Funktion des Täterschutzes und diente dazu, den Schlüsselfragen eines solchen Geschehens auszuweichen, die natürlich auch den Kommunikationsforscher interessieren.

Welche Beobachtungen berühren Sie dabei besonders?

Pörksen: Wie kann es sein, dass jahrelang Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht werden – und dass man den Hinweisen, den Spottliedern der Jugendlichen, den Gerüchten und Andeutungen kaum nachgeht? Welche organisationsinternen Spielregeln der Kommunikation, welche Formen der Bewunderung und Idealisierung sind nötig, um eine solche Verdrängung zu ermöglichen? Wie kultiviert man die Abgeschlossenheit des eigenen Systems? Wie hat man Abweichler diszipliniert, wie hat man Jugendliche bewusst oder unbewusst überhört, teilweise auch pathologisiert, die nicht auf Linie waren und um Hilfe baten? Kurzum: Wie verhindert man durch Kommunikation, das drängende Fragen gestellt und dass ihnen nachgegangen wird?

Alte Enthüllung

Warum war diese Strategie der Medienkritik beim Thema Missbrauch kaum erfolgreich?

Pörksen: Die Journalisten, die die Geschichte aufgegriffen und dann begleitet haben, kamen aus den Qualitätsmedien; sie waren dem Thema intellektuell und psychologisch einfach gewachsen und haben sich nicht einschüchtern lassen. Nur am Rande: Letztlich hat auch der Papst der Medienkritik indirekt die Spitze genommen, indem er gesagt hat, die Feinde der Kirche kämen nicht von außen, sondern von innen.

Über den Missbrauch an der Odenwaldschule hat der Journalist Jörg Schindler schon 1999 in der „Frankfurter Rundschau“ geschrieben. Warum gab es damals keine gesellschaftliche Debatte?

Pörksen: Dafür gibt es gewiss mehrere Gründe. Zum einen war kurz zuvor der CDU-Spendenskandal aufgedeckt worden und hat öffentliche Aufmerksamkeit absorbiert. Überdies existiert heute – anders als damals – eine globale Sensibilität für das Thema des sexuellen Missbrauchs, ausgelöst durch die Skandale in den USA und Irland. Zudem waren im Jahre 2010, wie schon erwähnt, auch in den Institutionen mutige Einzelpersonen tätig, die sich für das Reden und gegen das Schweigen entschieden haben. Dass das Thema von manchen Journalisten nicht schon früher aufgegriffen wurde, könnte auch daran gelegen haben, dass sie die Ideale der Reformpädagogik nicht durch ein solches Ekel-Thema beschmutzen wollten. Als problematisch erweist sich zudem der Begriff „Verjährung“. Wenn etwas als verjährt gilt und Ermittlungen eingestellt werden, so suggeriert dies womöglich manchem nicht ganz informierten Beobachter, dass an den Vorwürfen generell nichts dran sei.

Sternstunde des Aufklärungsjournalismus

Was lernen wir aus der Berichterstattung über die Missbrauchsdebatte?

Pörksen: Aus meiner Sicht liefert die Berichterstattung viele Hinweise darauf, wie ein Kodex der Missbrauchsberichterstattung eigentlich aussehen sollte. Man kann die vielen Porträts, die Interviews, auch die abstrusen Einlassungen einzelner Vertuscher und Rechtfertiger geradezu benutzen, um allgemeine Maximen zu formulieren. Denn es gilt, stets die Unschuldsvermutung zu betonen; man muss darauf achten, dass die Opfer nicht ein zweites Mal zu Opfern gemacht werden. Generell gibt es bei einem derart heiklen Themenfeld ein Gebot der Behutsamkeit und zur Achtsamkeit – und auch eine Verpflichtung, Gegenstimmen zu Wort kommen zu lassen und verschiedene Wirklichkeiten sichtbar zu machen, um nicht, befeuert durch die allgemeine Empörung, neue Blickverengungen und Ungerechtigkeiten zu produzieren. All dies ist geschehen. Insofern kann man sagen: Die Berichterstattung der Qualitätsmedien ist eine Sternstunde des Aufklärungsjournalismus.


Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und erforscht die Dynamik von Skandalen. Er veröffentlichte – gemeinsam mit Jens Bergmann – das Buch „Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung.“

In der letzten Woche diskutierten Jörg Schindler (Frankfurter Rundschau), Tanjev Schultz (Süddeutsche Zeitung) und Bernhard Pörksen an der Universität Tübingen über die Frage: „Wann wird ein Skandal zum Skandal? Der Missbrauch und die Medien – der Fall der Odenwaldschule aus der Sicht von Journalisten.“

Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de.