Im Jahr 1998 hatte der Gesetzgeber die bis dahin geltende Höchstgrenze von zehn Jahren für die Sicherungsverwahrung gestrichen. Seither ist es möglich, Straftäter auch nach Verbüßung der eigentlichen Freiheitsstrafe für potenziell unbegrenzte Zeit einzusperren - wenn die Gefahr besteht, dass sie weitere erhebliche Straftaten begehen. Diese Neuregelung wurde auch auf Täter angewandt, die vor 1998 verurteilt worden waren. Eine solche rückwirkende Anwendung hatte der EGMR in seiner Entscheidung beanstandet. Einen Einspruch der Bundesregierung hatte der Gerichtshof vergangene Woche abgelehnt; damit wurde sein Urteil rechtskräftig.
Dennoch müsse ein Straftäter, der sich seit mehr als zehn Jahren in Sicherungsverwahrung befindet, nicht sofort entlassen werden, entschieden nun die Karlsruher Richter. Der Antragsteller war 1996 unter anderem wegen versuchten schweren Menschenhandels, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, sexueller Nötigung und Förderung der Prostitution verurteilt worden. Mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung wollte er seine sofortige Freilassung erreichen.
"Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit" überwiegt
Das Bundesverfassungsgericht begründete die Entscheidung mit einer Folgenabwägung: Das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit überwiege im konkreten Fall das Interesse an der Beendigung der Freiheitsentziehung. Die Fachgerichte hätten die Annahme, dass von dem Beschwerdeführer weitere Straftaten drohten, nachvollziehbar begründet. Eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren steht noch aus.
Nach einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa in den Justizministerien der Bundesländer können sich in den kommenden Jahren bundesweit mehr als 130 Straftäter auf das Urteil des EGMR berufen und ihre Freilassung verlangen.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeige, dass jeder Einzelfall geprüft werden müsse, sagte ein Sprecher des Bundesjustizministeriums: "Es lässt sich schon jetzt absehen, dass es keinen Automatismus für die Freilassung von Straftätern gibt." Niedersachsens Justizminister Bernd Busemann (CDU) wandte sich gegen "voreilige Entlassungen von gefährlichen Schwerstverbrechern". Es müsse in jedem Einzelfall die rechtliche Klärung erfolgen, "wenn nötig auch beim Bundesverfassungsgericht".
Justizminister fordern gesetzliche Neuregelung
Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) forderte eine komplette Neuregelung der Sicherungsverwahrung: "Wir brauchen eigene Verfahrensregeln und eigene Spruchkörper für die Anordnung der Sicherungsverwahrung, um den Unterschied zur Strafe deutlicher zu machen." Das müsse der Bund regeln. Auch Brandenburgs Justizminister Volkmar Schöneburg (Linke) forderte eine gesetzliche Neuregelung: "Die Verantwortung darf nicht auf die dritte Gewalt - auf die Strafverfolgungskammern - abgewälzt werden", sagte er.
Für Täter, die möglicherweise freigelassen werden, planen die Länder spezielle Vorsorgemaßnahmen. Nordrhein-Westfalens Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) forderte nach einer Meldung der Kölner Zeitung "Express" den Einsatz von elektronischen Fußfesseln.