Alle brauchen Rituale - auch die Fanmeile
Ob Konfirmation, Muttertag oder die tägliche Tagesschau: Unser Leben steckt voller Rituale. Mancher findet sie lästig und einengend, anderen geben sie Halt. Eines ist jedoch klar: Keine Gesellschaft kommt ohne sie aus.
20.05.2010
Von Andrea Barthélémy

Wer zu Pfingsten den Gottesdienst besucht, der tut es. Wer sich auf der WM-Fanmeile zum Public Viewing einfindet, um im Menschenmeer singend dem deutschen Fußballnationalteam zuzujubeln, der tut es auch: Er nimmt teil an einem Ritual. "Menschen kommen ohne Rituale nicht aus", ist die Ethnologin Prof. Birgitt Röttger-Rössler (FU Berlin) überzeugt. Aber wozu genau dienen diese Gemeinschaftsaktionen heute? Kulturwissenschaftler und Neurobiologen diskutierten am Donnerstag auf dem 14. Daimler Benz Kolloquium in Berlin Antworten auf diese Frage.

"Durch die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, die Dominanz der kirchlichen Rituale und den 'Mief' der 50er Jahre wollten viele wenig mit Ritualen zu tun haben", sagte der Völkerkundler und Leiter des Kolloquiums Prof. Axel Michaels (Uni Heidelberg). Aber seit einiger Zeit habe sich auch die Forschung wieder neu dem Thema zugewandt - aus gutem Grund. "Ich vermute stark, dass es in unserer industrialisierten Welt mehr Rituale gibt als in traditionellen Gesellschaften. Heute kann man mal dieses sein, mal jenes. Damit diese Zugehörigkeit Form annimmt, bedarf es aber einer öffentlichen Darstellung." Und dazu brauche es nach wie vor: Rituale.

Selbst geschaffene Übergangsrituale sind alltäglich

Vor allem sogenannte Übergangsrituale, die die Grenze zweier Lebensabschnitte markieren, haben weiter Konjunktur: "Neben Konfirmation oder Jugendweihe sind das bei uns etwa die Abiturfeiern, die immer größer werden", sagte Röttger-Rössler. "Das fängt mit wochenlangen Vorbereitungspartys an, gipfelt im Abi-Streich und endet in einer bombastischen Abendgala in großer Garderobe." Wichtig dabei seien etwa das gemeinsame Handeln, der gemeinsame Fokus und der enge Kontakt zueinander. Solche Momente erlaubten es dem Einzelnen, aus dem alten Alltag herauszutreten, eine Weile Narrenfreiheit zu genießen, und sich dann in neuem Status wieder einzugliedern.

Auch exzessive, immer aufwändiger geplante Junggesellenabende mit ihren diversen "Mutproben", seit einiger Zeit ergänzt durch das weibliche Pendant - dem Junggesellinnenabschied (auf Englisch "hen night", also Hennen-Nacht) - gehören zu diesen neueren Ritualen. Es folgen gigantische Hochzeiten und ein paar Jahre später dann häufig Scheidungspartys, die die "wiedererlangte Freiheit" feiern sollen. "Solche Rituale für Übergänge sind immens wichtig, und zwar nicht nur kollektiv für den Zusammenhalt der Gemeinschaft, sondern auch für die Psyche des Einzelnen", betonte Röttger-Rössler: Sie schaffen Nähe, Gemeinsamkeit, Orientierung in einer Umbruchsituation, die Angst machen oder sogar eine Krise mit sich bringen kann.

Wissenschaftler: Ritual geht nicht online

So standen noch in den 90er Jahren Eltern, die durch Früh- oder Totgeburt ihr Kind verloren, mit ihrer Trauer völlig allein da. Oft durften sie die kleinen Leichname nicht einmal beerdigen. "Mittlerweile hat sich da eine ganz neue Trauerkultur mit eigenen Ritualen gebildet. Eltern dieser stillgeborenen Kinder haben sich solidarisiert, zunächst oft im Internet, dann auch in der Realität", erklärte die Forscherin. Heute gibt es Abschiedsfeiern in Kliniken und Kapellen sowie Friedhöfe, um der Trauer um die verstorbenen Kinder einen Raum zu geben. "Aber auch hier zeigte sich, dass die Verarbeitung des Verlustes für die Familien umso einfacher war, je näher sich die Betroffenen auch in der Wirklichkeit kamen."

Um seine ganze Kraft zu entfalten, braucht das Ritual also die körperliche Gegenwart. "Über das Internet beispielsweise werden wir uns nie so spiegeln können und so empathiefähig sein", sagte Röttger- Rössler. Das sieht auch der Neurowissenschaftler Prof. Wolf Singer aus Frankfurt am Main ähnlich: Damit die vom Menschen geschaffenen abstrakten Realitäten, wie Glaubens- oder Moralsysteme, verbindlich werden können, "müssen sie sinnlich erfassbar, emotional spürbar und mit anderen Menschen teilbar werden. Sie bedürfen der Rückbindung an jene Realität, die unseren Sinnessystemen direkt zugänglich sind."

In der virtuellen Welt dürften Rituale also bis auf weiteres nur ein Abglanz oder - als Aufruf zum Flashmob - bestenfalls der Zündfunke der Gemeinsamkeit sein.

dpa