Abraham Geiger und die Neugestaltung der Judenheit
Er war revolutionär und zugleich moderat, wollte seine Religion radikal verändern und doch vieles bewahren: Vor 200 Jahren, am 24. Mai 1810, wurde in Frankfurt am Main der jüdische Reformer und Begründer der modernen Koranforschung, Abraham Geiger (1810-1874), geboren.
20.05.2010
Von Yvonne Jennerjahn

Er war Vorkämpfer einer wissenschaftlichen Ausbildung für Rabbiner. In Geigers Tradition steht auch das Potsdamer Rabbinerkolleg, das vor zehn Jahren als erste deutsche akademische Ausbildungsstätte für jüdische Geistliche seit der Schoah eröffnet wurde und seinen Namen trägt.

Geigers Schriften verstörten orthodoxe Juden wie christliche Theologen und sorgten damit mitten im deutschen Biedermeier für einen ähnlichen Eklat wie ihn auf protestantischer Seite sein Zeitgenosse David Friedrich Strauß verursachte: Die Bibel erklärte Geiger zur historischen, von Menschen verfassten Textsammlung. Jesus und Mohammed sah er als religiöse Reformer, nicht als Religionsstifter.
Das Christentum war für ihn sogar eine Gemeinschaft, die durch den Verrat des Apostels Paulus an den Lehren des Juden Jesus und die Aufnahme heidnischer Elemente entstand.

Kürzere Gottesdienste, deutsche Texte

Geiger wollte das Judentum mit Hilfe der Wissenschaft zu einer ethischen Vernunftreligion machen, die universale Werte durch religiöse Praxis zum Ausdruck bringt. "Aus dem Judenthum heraus die Judenheit neu und frisch belebt zu gestalten", war sein Ziel. Er verkürzte Gottesdienste, strich traditionelle Gebete, führte deutsche Texte ein und schlug vor, ab und zu auch am Sonntag Gottesdienst zu feiern und so die strengen Sabbatregeln zu umgehen.

"Tiefe Orthodoxie, deren Grund im Nichtnachdenken lag", habe ihn in der Kindheit geprägt, schrieb Abraham Geiger über sich selbst. Er wuchs in einer strenggläubigen Familie auf und besuchte eine Frankfurter Talmudschule. Als die dortigen Juden unter Napoleons Herrschaft mit den anderen Bürgern gleichgestellt wurden, war er ein Jahr alt. Als ihnen die staatsbürgerliche Gleichheit wieder aberkannt wurde, war er 14.

Ein Lexikon als Lebenswende

Doch den ersten großen Einschnitt in seinem Leben bringt nicht die Politik, sondern ein Lexikon: Mit elf Jahren bekommt Geiger ein zehnbändiges Nachschlagewerk zur Geschichte in die Hände. Und da beginnt sich für ihn alles zu ändern. Der Junge liest und fängt an, am überlieferten Weltbild des orthodoxen Judentums und an biblischen Darstellungen zu zweifeln. 1829 nimmt er sein Studium an der Universität Heidelberg auf. Dabei scheut er zunächst den Kontakt mit anderen Kommilitonen, weil er "vorher niemals Umgang mit Christen gehabt hatte". Später beginnt er in Bonn Arabisch und den Koran zu studieren. Für eine Abhandlung über die jüdischen Wurzeln des Islam gewinnt er bei einem Wettbewerb einen Preis.

Doch die akademische Laufbahn steht ihm als Juden nicht offen. 1832 wird Abraham Geiger Rabbiner in Wiesbaden, kurz darauf verlobt er sich. Heiraten darf das Paar aber erst sechseinhalb Jahre später, weil das Frankfurter Recht nur zwei jüdische Eheschließungen pro Jahr gestattet. Als die Ehe nach der erneuten rechtlichen Gleichstellung der Juden 1865 auch staatlich anerkannt wird, ist seine Ehefrau bereits fünf Jahre tot.

Gleichberechtigung der Frauen

Auch in Wiesbaden forscht und schreibt Abraham Geiger. Er fordert die Einführung eines jüdisch-theologischen Hochschulstudiums, weil er die übliche Ausbildung durch ein unkritisches Talmudstudium für unzureichend hält. Und er spricht sich für die Gleichberechtigung der Frauen im Gottesdienst aus.

Wiesbaden wird ihm zu eng, er geht in die Großstadt Breslau. Mit 56 zu einer Stimme wird er dort 1838 zum Rabbiner gewählt. Und ein Streit beginnt, der die Gemeinde schließlich spaltet: Der orthodoxe Oberrabbiner akzeptiert den Neuen nicht, weil der die Religion angegriffen habe "und überhaupt, wer eine Universität besucht hat, kein rabbinisches Amt bekleiden" dürfe. Sein Vorgesetzter ruft sogar die Polizei zu Hilfe, weil der König deutschsprachige Predigten verboten hatte.

"Toter Gewohnheitsschlendrian"

Doch der Protest ist vergebens, die Mehrheit unterstützt den Reformer. Als "Kampf der Unwissenheit mit der wissenschaftlichen Bildung" und des "toten Gewohnheitsschlendrians" mit den "erwachten wahrhaft religiösen Anforderungen" sieht Abraham Geiger den Streit. Die orthodoxe Minderheit gründet eine eigene Gemeinde. Mehr als 20 Jahre bleibt der Reformer in Breslau, 1863 wird er Rabbiner in Frankfurt am Main, sieben Jahre später wechselt er nach Berlin.

Und dort erfüllt sich doch noch sein Lebenstraum: Am 8. Mai 1872 wird als weltweit erste zentrale Einrichtung des liberalen Judentums die neue Hochschule für die Wissenschaft des Judentums eröffnet, Geiger wird ihr erster Rektor. "Die Gleichberechtigung des Judentums mit den anderen Konfessionen", so hat er wenig später knapp sein Lebensziel zusammengefasst. Am 23. Oktober 1874 stirbt Abraham Geiger in Berlin an einem Hirnschlag. Sein Grab ist heute ein Ehrengrab des Landes Berlin.

epd