Klein ist das Guckloch, unter den Füßen knarren die Holzbalken, aber der Blick ist berauschend: Hoch über den Dächern von Prag hat der Turm der St.-Nikolaus-Kirche vier Fensterchen, in jede Himmelsrichtung eines. Kajka hieß der Kirchturm früher im Geheimdienst-Tarnnamen, es ist das tschechische Wort für eine Entenart. Denn hinter den Gucklöchern saßen zu sozialistischen Zeiten Agenten und überwachten aus der Vogelperspektive rund um die Uhr die Botschaften der westlichen Länder und koordinierten per Funk ihre Kollegen am Boden.
Pendant der deutschen Stasi-Behörde
Aus 74 Metern Höhe ist auf den Kopfsteinpflaster-Gassen alles zu sehen: Jedes Auto, jede Straßenbahn im weiteren Umkreis, selbst die verwinkelten Straßen der berühmten "Prager Kleinseite". Und die diplomatischen Vertretungen liegen wie auf dem Präsentierteller: die deutsche, die amerikanische, die französische und die japanische Botschaft.
"Das ist ja unglaublich", entfährt es Ladislav Bukovszky. Der 44-Jährige ist Chef des tschechischen Archivs für Sicherheitsunterlagen, dem Pendant der deutschen Stasi-Unterlagen-Behörde. Bei ihm laufen die Dokumente zusammen, die der sozialistische Geheimdienst im Laufe der Jahrzehnte angelegt hatte, exakte Beobachtungsprotokolle und vertrauliche Spionageberichte.
"Über den Turm der St.-Nikolaus-Kirche habe ich schon oft gelesen, der war ein Zentrum für den Geheimdienst", sagt Bukovszky. Er selbst war allerdings noch nicht oben auf dem Ausguck, ihn kannte er bislang nur aus seinen Papieren.
Museum erzählt Geschichte systematischer Bespitzelung
In diesem Frühjahr hat hier oben, 215 Treppenstufen über der Stadt, ein Museum eröffnet. "Als wir den Beobachtungsposten zum ersten Mal gesehen haben, war er noch ausgezeichnet erhalten", sagt Matej Barta, der Chef des Museums. "Wir haben noch alte Fotos gefunden, einiges technisches Gerät und sogar die provisorische Toilette, die sich die Agenten hier oben eingerichtet haben."
Selbst die Etiketten von den Bierflaschen sind noch zu sehen, die Spione hatten sie damals offenbar aus Langeweile an die Wand geklebt. Das kleine Museum erzählt anhand von Exponaten die Geschichte der systematischen Bespitzelung: Ferngläser und Fotoapparate sind ausgestellt, ebenso wie Bilder, die damals von mutmaßlich verdächtigen Botschaftsbesuchern gemacht wurden.
"In der ganzen Stadt gab es etliche fest eingerichtete Operationspunkte, von denen aus der Geheimdienst seine Opfer beobachtet hat", sagt Ladislav Bukovszky vom Archiv für Sicherheitsunterlagen. Das neue Museum im Turm der Nikolaus-Kirche aber beleuchtet das beängstigende Spitzel-System zum ersten Mal an einem der früheren Original-Schauplätze.
Verstaatlichter Kirchenbesitz
Auf Karten und Fotos erkennen die Besucher, wie engmaschig das Netz geknüpft war, wie perfekt getarnt die Agenten auf Lauer lagen - und mit welchen technischen Hilfsmitteln sie schon in den 70er Jahren ausgerüstet waren. Manche der Beobachtungspunkte funktionierten vollautomatisch, eine ganze Batterie von Videokameras war aus Briefkästen und Lüftungsschlitzen heraus auf Botschaften gerichtet sowie auf Wohnungen von Dissidenten, Künstlern und Oppositionellen.
So prominent wie der Beobachtungsposten auf dem Turm der St.-Nikolaus-Kirche war allerdings keiner der anderen Stützpunkte. Möglich wurde der Ausguck, weil die Staatssicherheit den Kirchenbesitz fast vollständig verstaatlicht hatte.
Die Mitarbeiter der Staatssicherheit verspotteten den Kirchturm früher als "Dedkostroj", als Opa-Maschine. "Dort oben saßen vor allem alte Agenten, viele waren eigentlich schon Rentner", sagt Ladislav Bukovszky. "Das waren die Leute, die für den Einsatz auf der Straße nicht mehr schnell genug waren."
"An die Beklemmung im sozialistischen Regime erinnern"
Im Archiv hat Bukovszky mit seinen Mitarbeitern genaue Beschreibungen gefunden, die auf dem Kirchturm aufgezeichnet wurden: minuziöse Protokolle darüber, wer sich wann den Botschaften genähert hat und wie lange Besucher geblieben sind. Per Funk konnten die Agenten auf dem Turm ihre Kollegen alarmieren, die dann zu Fuß die Verfolgung von vermeintlich verdächtigen Personen übernommen haben.
Das neue Museum umfasst zwar nur wenige Räume und den Aussichtspunkt ganz oben auf dem Kirchturm, aber es ist die erste Ausstellung dieser Art in Tschechien. Man wolle an die Unfreiheit, an die Beklemmung im sozialistischen Regime erinnern, heißt es. "Wir richten uns an ausländische Touristen, aber vor allem auch an tschechische Besucher", sagt Museumschef Matej Barta. "Denn wer früher die sozialistische Zeit selbst erlebt hat, der hat einen ganz anderen Blick auf die Sache."