In der Mitte meines Glaubens
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten. Heute: mein Glaube in diesem November

"Wie geht's dir?", fragt mich Nina. Und ich sage etwas zur Weltlage. Wie unbegreiflich es für mich ist, dass Trump gewählt wurde. Ein Lügner, Faschist, Frauenhasser, mit seiner ganzen Entourage von Musk über Kennedy bis Loomer, der Gegner:innen verfolgen will und dessen Umfeld mich an die US-Dramaserie Handmaid's Tale denken lässt. Wie mühsam es ist, dass meine eigene deutsche Regierung genau an dem Tag endgültig auseinanderbricht, an dem ich ein Signal von Stabilität gebraucht hätte, ein fürsorgliches Wort, ein „Wir schaffen das“, mit der Verteidigung der Demokratie und der freien Welt.

"Wie geht es dir?", fragt Nina. Und weil sie eine Glaubensschwester ist, sage ich, dass es mir gerade schon sehr hilft, Christin zu sein. Und tatsächlich tut es das. Wenn mich die Angst erfasst, dann denke ich daran, dass Gott sein Volk aus der Sklaverei befreite. Ich denke daran, dass Jesus auferstanden ist. Dass es also eine Kraft gibt, die stärker ist als Unterdrückung, Egoismus und Bosheit. Stärker als die Zerstörung, die Menschen einander und den anderen Wesen dieser Welt antun. Ohne daran festzuhalten, würde ich gänzlich irre werden. Oder könnte mich nur noch unter meine Decke zurückziehen und schlecht gemachte Trash-Sendungen bingen. (Letzteres, also exzessiv am Stück konsumieren, tue ich allerdings auch: My Style Rocks auf YouTube - fragt nicht!)

Mein Glaube ist meine Ressource, meine Medizin, mein Schutzmantel. Und meine Verpflichtung, mich einzusetzen für Freiheit und Gerechtigkeit.

Der gleiche Glaube allerdings - das Christentum, der Glaube an Jesus, die Liebe zu den biblischen Texten, die lange Geschichte und Kultur meiner Religion: all das hat Menschen Trump wählen lassen. Es sind die weißen Christ:innen, die Trump zum Sieg verholfen haben. Nicht nur die Evangelikalen unter ihnen, sondern auch die aus den liberaleren weißen Kirchen:
https://chrismon.de/artikel/56248/us-wahl-2024-wie-christen-trump-ins-weisse-haus-verholfen-haben

In Russland ist es die orthodoxe Kirche, die Putin den Rücken stärkt und den Krieg gegen die Ukraine religiös legitimiert.

Und in meiner näheren Welt gibt es Christfluencer:innen, die mit rechtspopulistischen Aktivist:innen Koalitionen bilden. Es gibt Gemeinden, die Täter schützen. Autoritäre Haltungen. Und jede Menge Angst vor Konflikten.

Mein Glaube ist auch ein Ermöglicher von Unklarheit, Demokratiefeindlichkeit, Trans- und Homophobie, Misogynie, Klassismus, unreflektierten Machtverhältnissen und Gewalt.

Es wäre einfach zu sagen, der eine, mein Glaube, sei das richtige Christentum. Und der andere, der gewaltermöglichende, das falsche. Beides ist angelegt in den Texten, der Tradition, der vom Christentum mit geschaffenen Lebensverhältnissen. Und denjenigen unter meinen Geschwistern ihr Christ:in-Sein abzusprechen, die Trump wählen, Putin stützen, in Deutschland die Abschaffung der Demokratie anstreben und Gewalt ermöglichen - das scheint mir unaufrichtig. Es ist schon auch meine Religion, die sich so gebärdet, es sind meine Geschwister, die das mit ihrem ernsthaft praktizierten Glauben vereinbaren.

Ich habe gehofft, beim Schreiben dieses Textes auf eine Lösung zu kommen, eine Antwort auf dieses Dilemma. Aber ich habe sie nicht. Nur immer wieder die Rückkehr zu Jesus (bevor er weiß wurde: https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/wie-ist-jesus-weiss-geworden-011352.html). Zum Menschsein in der Mitte meines Glaubens. Und die Hoffnung, dass Freiheit und Gerechtigkeit stärker sind. Dass denen, die sich dafür einsetzen, nicht die Kraft ausgeht. Und dass es welche unter uns gibt, die überzeugend sprechen können von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen. Und von der Umkehr. Nicht nur im November.

Vielleicht habt ihr mehr Antworten als ich.