GEISTVOLL IN DIE WOCHE
Hier unten leuchten wir
Martinstag ist ein schöner Feiertag: die bunten Lichter im Novembergrau, die Martinsmänner, die Geschichte vom geteilten Mantel.... aber man kann noch viel mehr tun, als dieser Bischof von Tours.

Um den Martinstag hab ich die Christenheit immer beneidet. Das ist wirklich einer Eurer schönsten Feiertage, find ich. Die Laternenumzüge angeführt von einem edlen Manne auf einem Pferd haben etwas tief Romantisches. Und kulinarisch sind sie auch super, weil die Martinsmänner aus fluffigem Hefeteig echt megalecker sind. Am schönsten aber sind die Texte und Melodien der Laternenlieder.

"Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir" könnte beinahe ein Satz aus Martin Bubers chassidischen Überlegungen sein.

Und auch das Besingen der bunten Lichter

"rote gelbe grüne blaue, lieber Martin komm und schaue" ♪♫♪♫

könnte man als ein: "Du bist ein Martin, der mich sieht..." interpretieren...

Kurz: Ich mag es wirklich!

Mit der dahinterstehenden Geschichte hab ich allerdings ein Problem. Denn Martin ist für meinen Geschmack nicht wirklich großherzig. 

- Klar, er gibt dem Bettler die Hälfte seinen Mantels- und... -beachtet man das biblische Gebot ein Zehntel dessen, was man hat, zu spenden, scheint das erstmal fünfmal soviel zu sein, also eine echte Mizwa

Rechnerisch bezieht sich das jedoch nur auf den Mantel, aber Martin hatte ja noch mehr Kleidung. Und Essen. Und ein Pferd. Und ein Zuhause, wo er hingeritten ist. ... - Der Bettler hingegen  saß "im Schnee" und hat nur "Lumpen an", war also quasi nackt... - zumindest wurde mir das im christlichen Kindergarten so erzählt und diverse Darstellungen, unter anderem zum Beispiel der Bassenheimer Reiter, eine Martinsdarstellung des Naumburger Meisters, oder St. Martin in der Kirche Veules-les-Roses, oder das Gemälde Der heilige Martin und der Bettler von El Greco zeigen das auch. Sogar das Ortswappen von Flims. 

Überall da ist der Bettler nackt, hungrig und frierend.

Ich hab deswegen schon als Kind gesagt, dass das nicht in Ordnung ist, dass er dem Bettler nur die Hälfte von seinem Mantel gibt, weil der Bettler ja doch viel mehr bräuchte und Martin doch so eine riiiiiiesengroße Menge mehr hat... 

Aber gut, -heutzutage würd ich da noch mit mir verhandeln lassen. 

Vielleicht hatte Martin akut nur diese eine Hose und die brauchte er als Soldat... man kann ja schlecht nur mit einer halben Hose losziehen... und das Pferd war vielleicht sein Freund. Das kann man ja schlecht teilen.... es gibt sicher nachvollziehbare Gründe...

Womit ich aber nie einverstanden sein werde, ist das, was NACH dem Mantel teilen passiert und so besungen wird: ♪♫♪♫

"Sankt Martin gab den Halben still:

Der Bettler rasch ihm danken will

Sankt Martin aber ritt in Eil'

Hinweg mit seinem Mantelteil."

What? 

Sein Ernst? 
Nicht mal ein Danke abgewartet? Das ärgert mich richtig. 

Es wird immer so getan, als sei das besonders edel, dass Martin nicht mal ein Danke angenommen hat. Und so kann man es natürlich interpretieren. Aber ich finde es ziemlich doof gleich davon zu reiten. Warum hat er sich nicht noch ne Weile zu dem Mann gesetzt und mit ihm gesprochen? Warum verschenkte er nicht auch noch ein wenig Zeit und Aufmerksamkeit? Ein bisschen Zuwendung? Einen Augenblick und einen Blick! 
- Gleich davon zu reiten sieht so aus, als wolle er möglichst keine Zeit an den Mann verschwenden...

Ich versteh diesen davon eilenden Martin nicht. 

Er nimmt sich so auch die Gelegenheit etwas zurück zu bekommen.
Eine Geschichte, ein liebes Wort, einen Denkanstoß....

Und er nimmt dem Beschenkten die Gelegenheit etwas zurück zu geben. Er beschämt ihn im Grunde...

Und wer je ein Geschenk bekommen hat und keine Gelegenheit für ein Danke bekommen hat, weiß, dass sich das nicht gut anfühlt. Es ist beinah eine Art Demütigung. Auch wenn es vielleicht gut gemeint ist. 

Wer gibt, soll kein Danke erwarten.
Aber Gelegenheit für ein Danke geben, sollte er schon.

In diesem Sinne: Nehmt Euch Zeit füreinander. Setzt Euch mal zu denen, die am Straßenrand leben. Schmeißt nicht nur ne Münze in die Mütze und rennt weiter; sondern seid mal jemand, der hinsieht. Jemand, der den anderen ansieht. Jemand der sieht. 
Seid dem anderen eine Laterne und lasst ihn eine Laterne für Euch sein.