HERR, du erforschest mich und kennest mich.
ANNA
Ich bin Anna.
Ich halte mir die Augen zu.
Ich halte mir die Augen zu, bis ich endlich sterbe.
Ich halte mir einfach die Augen zu, bis alles vorbei ist.
Ich habe mich schon immer klein gemacht und bin die kleine schmale Anna.
Ich rede nicht viel, denn aus meinem Mund kommt nur Lallen.
1918 bin ich geboren mit einer „Hasenscharte“.
So haben sie es immer genannt.
Die ist genäht. Aber meine Gaumenspalte nicht.
Ich habe ein schiefes Gesicht und einen schiefen Mund
und wenn ich rede, versteht mich keiner.
- Still, Anna! - Ich hab mich schon immer klein gemacht - Still, Anna!
Niemand weiß, dass ich singen kann.
Meine Stimme ist wunderschön.
Und ich kenne hunderte Lieder - alle auswendig.
Die singe ich nur für mich.
Ich habe keinen Mann und keine Kinder,
bin immer nur bei der Mutter gewesen.
Ich war ihre kleine Anna.
Die Anna mit dem schiefen Mund.
Die Kinder haben gelacht. Das tat weh.
Dann habe ich mich klein gemacht. - Still, Anna!
Mutter ist gestorben.
Da kam ich zu meiner Schwester.
Die ist auch gestorben.
Nun liege ich hier.
Ich sehe sehr schlecht und mache mich klein.
Ich halte mir die Augen zu und warte, bis es vorbei ist
- das Leben.
Ich lege mir immer ein Tuch auf die Augen.
Früher dachte ich, so bin ich weg.
Ich bin die kleine Anna und ich warte auf das Ende.
Und heimlich singe ich manchmal,
denn meine Stimme ist wunderschön.
Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.
Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin;
wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.
Martha
Mich nennen sie Martha.
Vielleicht ist das mein Name.
Er kommt mir bekannt vor.
Sonst kommt mir wenig bekannt vor.
Nicht mal ich selber bin mir bekannt.
Manchmal öffnet sich mein Erinnern wie ein Vorhang
und da sehe ich Gesichter und Ereignisse.
Es müssen wohl meine sein.
So liege ich hier schon 3 Jahre
und fische nach Fetzen in der Erinnerung.
Eines weiß ich noch: ich war schön.
Wie ich jetzt aussehe, weiß ich nicht,
auch nicht, wie alt ich bin.
Ich liege hier.
Manchmal schüttelt mich ein Weinen und Schreien.
Ich weiß nicht woher.
Martha,
der Name kommt mir bekannt vor.
Ich liege hier.
Martha war schön.
Es war dir mein Gebein nicht verborgen,
da ich im Verborgenen gemacht wurde,
da ich gebildet wurde unten in der Erde.
Nelly
Sie drehen sich nach mir um.
Manchmal stelle ich mir vor, sie tun es, weil ich so hübsch bin.
Ich finde mich hübsch.
Ich war die kleine zarte, hübsche Nelly,
die mit den blonden Locken, der Stupsnase und den Grübchen.
Die bin ja immer noch.
Vielleicht in einer Spätausgabe mit einigen Falten und wunderschönem blondweiß.
Es kringelt sich immer noch und ich trage es lang und offen.
Die Leute halten mich für verrückt… sollen sie nur!
Weißt Du, ich liebe das Leben, ich will nicht, dass es einstaubt.
Um mich herum rennen alle am Leben vorbei.
Ich stehe mitten in der Fußgängerzone, da sehe ich sie alle.
Ich stehe mitten im Weg.
Ja, ich bin den Leuten sehr im Weg.
Ich rufe Schimpfwörter vor mich hin oder anderen hinterher.
Da drehen sie sich nach mir um.
Ich kann wunderbar einen auf verrückt machen und mit den Augen rollen.
Da rennen sie deutlich schneller weiter.
Den Kindern schenke ich Muscheln und schöne Steine.
Ich hab ja immer alles dabei in meinen vielen Taschen.
Ich will keine Omafrau sein mit Omafrisur und Latschen.
Meine Kleider sind bunt und selbst ausgesucht
und meine Haare schneide ich mir selber.
Ich trage sie offen, damit der Wind hineinfahren kann.
Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war.
Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.
Ich gehe oder liege,
so bist du um mich und siehst alle meine Wege.
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.
Das erkennt meine Seele:
Dass ich wunderbar gemacht bin.
... schreibe ich und wünsche mir besser zu werden darin,
meine Schönheit zu sehen und die der anderen.
Wie die von Anna, Martha und Nelly,
die wirklich gelebt haben,
die ich kannte
und die wirklich schön waren.
Das erkannte meine Seele.
#challenge:
Lege Schönheit in Deine Augen, liebe*r Betrachter*in.