Briefausschnitt
privat
Geistvoll in die Woche
Das Herz meiner Mutter- und andere Organe...
Organspende ist ein medial ein großes Thema. Es gibt zahlreiche Reportagen über Organempfänger und was sie in ihrem neu gewonnenen Leben so alles tun. Über die Hinterbliebenen der Organspender erfährt man deutlich weniger...

Ich war gerade 16 und hatte die Nacht durchgefeiert. Als ich morgens um halb sechs nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Tisch von der Nachbarin. Darauf stand, ich solle mich sofort melden...

Im Krankenhaus stand eine große Runde Ärzte um das Bett meiner Mutter und prüfte gerade den Patellarsehnenreflex. Dabei wird mit einem Hämmerchen unterhalb des Knies geklopft und im Normalfall bekommt der Arzt dann einen Tritt vom Patienten. Aber meine Mutter trat nicht. Sie scherzte auch nicht, wie sonst immer beim Arzt. Sie reagierte auf überhaupt nichts mehr. Sie lag da einfach da, reglos, - komplett verkabelt in einem Krankenhausbett.

Diagnose: Hirntot, nach Hirnschlag. 
Sie war gerade 35 Jahre alt. 

Organspende war damals noch kein großes Thema in der Öffentlichkeit. Aber meine Mutter war Organspenderin. Aus tiefster Überzeugung. Sie hatte den Ausweis immer bei sich. Er lag, als ich im Krankenhaus ankam, auch bereits auf ihrer Akte.

Ein Arzt nahm mich beiseite und erklärte mir die Zusammenhänge. Dann wurde ich um mein Einverständnis zur Organentnahme gefragt. 

Und natürlich habe ich zugestimmt. Erstens, weil ich den Willen meiner Mutter respektierte und zweitens, weil ich wollte, dass wenigstens andere aus dieser Scheißnummer etwas Gutes ziehen sollten. 

Leben zum Beispiel.

Was ich aber nicht wusste war, dass das bedeutete, dass meine weiter weg lebenden Großeltern meine Mutter nicht mehr sehen konnten (weil die Organe sofort entnommen werden mussten) - und dass ich einige Wochen danach Post bekommen würde. 
Und diese Post war nachhaltig irritierend für mich. 

Und ist es noch. 

Absender war die Koordinationszentrale des Transplantationszentrums. Nach einigen Kondolenzfloskeln wurde mitgeteilt, wem, wann, wo welche Organe transplantiert wurden und wie sie angenommen wurden:

„Die Leber wurde von einem Brüsseler Ärzteteam entnommen und einer 45-jährigen italienischen Staatsbürgerin mit einer schweren Lebererkrankung transplantiert. Die Transplantation und der postoperative Verlauf waren sehr gut und der Patientin geht es mittlerweile zufriedenstellend.

Das Herz wurde in unserem Zentrum einem 49-jährigen Patienten transplantiert, der nur dank dieser Transplantation überlebt hat. Auch bei diesem Patienten verlief die Transplantation und die Zeit nach der Operation sehr gut und er kann wieder ein weitgehend normales Leben führen.

Die linke Niere wurde in Groningen/Holland einem 36-jährigen Mann transplantiert, der schon seit 10 Jahren an die Dialysemaschine gefesselt war. Die Niere hat sofort nach der Transplantation ihre Funktion aufgenommen und...“

 

Dann folgten rechte Niere, Augenhornhaut, etc...und was gut angenommen wurde und was nicht. 

Die ersten Wochen nach diesem Brief waren sehr schwierig. Denn, kaum dass ich einen Menschen sah, der im entferntesten an eine der Beschreibungen aus dem Brief erinnerte, habe ich geglaubt, ein Stück meiner Mutter in ihm/ihr zu sehen: Schlägt in diesem Mann das Herz meiner Mutter? Aber auch: wie schön, dass ihre Leber nun in Italien ist. Da war sie doch so gerne. Oder mit einem gewissen Galgenhumor: jetzt pinkelt sie vielleicht grade gleichzeitig in Groningen und Hannover...

Insgesamt aber waren diese Halbinformationen schrecklich. Wenn ich wirklich gewusst hätte, bei wem konkret die Organe gelandet waren, hätte ich entspannen können. Ebenso, wenn ich gar nichts gewusst hätte. Aber so war das sehr lange sehr ungut für mich. 

Halbinformationen sind Nadelstiche, die dafür sorgen, dass du nicht vergisst, was du nicht weißt. 

Vor einigen Jahren habe ich an das Transplantationszentrum geschrieben. Ich habe gefragt, ob man jetzt noch erfahren könne, wie es den Empfängern erging und ob sie ein gutes Leben haben oder hatten. Ich habe bis heute keine Antwort bekommen. Nicht einmal ein vorfabriziertes "Tut uns leid, dazu können wir nichts sagen" oder dafür fehlen uns die Kapazitäten oder irgendetwas in der Richtung. Einfach nichts. 

Dabei wäre es tröstlich gewesen zu erfahren, dieses konnten die Organempfänger noch erleben, oder jenes konnten sie endlich wieder sehen...

Vielleicht lebt ja noch irgendwas von ihr in irgendwem...

Wünschen würde ich mir das. Wahrscheinlich ist es aber natürlich nicht...