Die Blicke machen ihr längst nichts mehr aus. Mit ihren behutsamen sparsamen Schritten geht Erika mit dem Handtuch in der Hand zum Steg. Wild fliegen ihr ihre widerspenstigen grauen Haare um den Kopf. Ihre tiefliegenden dunklen Augen scheinen von außen betrachtet von einem leichten Schleier bedeckt zu sein. Doch sie selbst nimmt ihre Umwelt klar und deutlich wahr. Zumindest das, was sie möchte. Der kleine Fußweg durch den Fichtenwald an den See ist ihr vertraut wie sonst nichts im Leben. Zweimal täglich läuft sie an den See. Immer wieder halten Menschen an und blicken skeptisch, wenn sie mit ihren kleinen Schritten durch den Wald gewackelt kommt und an den See geht.
Mit ihren altvertrauten, mittlerweile müde-zittrigen Händen streift sie sehr langsam den Pullover über den Kopf. Öffnet etwas umständlich den Knopf der Hose und zieht sich ganz und gar aus. In aller Ruhe. Sorgfältig legt sie die Sachen auf den Steg. Sehr aufrecht geht sie langsam ins Wasser hinein. Ohne Zögern. Das halbe Jahr tut sie das, bei jedem Wetter. Sie kennt den Moment, wo ihr kurz die Luft wegbleibt vor Frische und dann legt sie sich in das weiche Wasser des schönen Waldsees. Wie zarte Flügel spielt es um ihren Rücken und den Bauch. Langsam zerteilt sie mit ihren Armen die glatte Oberfläche des Sees.
Sie fühlt sich frei. Sie fühlt sich leicht. Sie fühlt sich. Jede Pore und jede Faser ihres beinahe 90jährigen Körpers. Sie fühlt alles, das Vorherige und das Jetzt. Manchen Leuten hier ist die schlanke, blasse, grauhaarige Frau ein wenig unheimlich, weil sie ohne viele Worte und leise durch die Badenden wandelt und lautlos in den See steigt. Manchmal ist sie ganz alleine da. Oft sogar. Vor allem Morgens. Für sie beginnt ihr Körper hier zu sprechen. Ihre Haut fühlt sich straff und frisch an. Ihre Brüste und ihr Bauch trudeln unbeschwert im Wasser. Ihre Arme ziehen stark durch. Schwimmen geht besser als Laufen. Beinahe ist es ihr, als würde sie mit dem See verschmelzen. Als wäre er ihr zum Spiegel ihrer Seele geworden: glatt und unbewegt an manchen Tagen. Auch mal dunkel und unergründlich, fremd. Ein anderes Mal grau und ohne Gedanken. Manchmal auch aufgewühlt mit kleinen Wellen.
Schützend und bergend stehen die Bäume wie alte Freunde um den See. Keine Sekunde hat sie Angst. Ihr Geist verschmilzt mit dem See und dem Vorher und Jetzt. Und in allem spiegelt sich der Himmel. Genau in ihrer Mitte treffen sich Wellen und Horizont. See und Himmel. Leben und Ewigkeit. Kleine Blasen schwimmen vor ihre her auf dem Rückweg. Voller Zärtlichkeit spürt sie jeden Zentimeter an ihrem Körper und gleichzeitig fühlt sie sich schwerelos. Das Wasser trägt sie.
Hier ist sie voll Leben. Sie wusste früher nicht, dass nichts in ihr sich alt anfühlen würde, nur der äußere Körper. Im See ist sie Erika, wie sie immer war. Und gleichzeitig Erika, die sie geworden ist. Erst wenn die Füße den Sand berühren und die Schwerkraft zurückkommt, die faltigen Haut freundlich in Form rutscht, spürt sie auch die Jahre wieder. Ihr Geist scheint manchmal nur langsam wieder zurück zu wollen in diese Erdenform.
Dennoch. Voller Würde und aufrecht und schön, fast wie schwerelos auch in der Welt, schreitet sie auf dem Steg zu ihren Sachen. Zieht sie langsam, sehr langsam, so schnell eben, wie eine Frau ihres Alters sich im Stehen anziehen kann, an. Ganz bei sich. In alle ihrer Lebensfülle.
#wochenaufgabe: Dich schön fühlen und voll Würde in all Deiner Lebensfülle.